All eure Gesichter

Kinostart: 14.12.23
2023
Filmplakat: All eure Gesichter

FBW-Pressetext

Das französische Drama rund um die „Justice Restaurative“ ist ein aufwühlender Film, der seine große Kraft aus seinem klug aufbereiteten Thema und dem nuancierten und authentischen Spiel des gesamten Ensembles zieht.

Gregoire, Nawelle und Sabine haben eines gemeinsam: Alle drei wurden Opfer von Gewalttaten. Und auch Nassim, Issa und Thomas teilen eine Gemeinsamkeit: Alle drei sind Täter, haben Menschen überfallen, angegriffen. Nun sitzen alle zusammen in einem Raum. Und sie sollen sprechen. Über sich. Und sie sollen den anderen zuhören. Für die Betreuenden, die diese Gespräche im Rahmen der „Justice Restaurative“, einer Form der Konflikttransformation im Rahmen des Strafvollzugs, vorbereitet haben, ist jedes Gespräch eine neue Herausforderung. Denn wie können Opfer und Täter jemals einander „begegnen“? Diese Frage muss sich auch Judith stellen, die alles versucht, um die junge Frau Chloe auf ein Gespräch vorzubereiten, was sie selbst einfordert: eine Wiederbegegnung mit ihrem Bruder, der sie missbraucht hat, als sie noch ein Kind war.

Der Film von Jeanne Herry (Regie und Drehbuch) behandelt ein wichtiges und hochsensibles Thema auf einzigartige Weise. Denn um der Restaurativen Justiz, die als Mediation versucht, Opfer und Täter miteinander kommunizieren zu lassen und die es im französischen Strafvollzug erst seit 2014 gibt, nahezukommen, inszeniert Herry zusammen mit ihrem Kameramann Nicola Loir die Sequenzen mit enormer, stellenweise auch bedrückender Dichte und Enge. Die Kamera ist ganz nah bei den Darstellenden, die sich in die Geschichten ihrer Figuren mit größtmöglicher Empathie hineinversetzen. Man glaubt, dass Sabine (gespielt von Miou-Miou), Opfer eines Handtaschendiebs wurde und nun seit sieben Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen hat, man sieht die Angst in ihren Augen. Und man glaubt, dass Thomas (gespielt von Fred Testot) sich eben nicht sicher ist, ob er nach seiner Freilassung nicht wieder kriminell werden wird. Wie fragil das Gefüge zwischen den einzelnen Beteiligten ist, zeigen die immer wieder aufkommenden Gefühlsausbrüche und auch die zarten zwischenmenschlichen Annäherungen in den Pausen. Und auch die eigene Storyline rund um Chloe, die von einer Beraterin auf die Begegnung mit ihrem einstigen Peiniger, dem eigenen Bruder, vorbereitet wird, zeigt, wie schwierig es ist, Konfrontation zu fördern, wenn das gleichzeitig bedeutet, alte Wunden wieder aufzureißen. Herry und ihrem Team gelingt durch die exakte Schauspielführung, das natürliche Setting und die Konzentration der Kamera auf die Gesichter eine dokumentarisch anmutende Atmosphäre. So wird man in die Emotionen jeder Figur hineingezogen. Dass dokumentarische Sachlichkeit und tiefe Emotion so beieinander liegen, ist ein filmisches Meisterstück in jeder Hinsicht.

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Jeanne Herry
Darsteller:Adèle Exarchopoulos; Dali Benssalah; Leïla Bekhti; Birane Ba; Anne Benoît; Élodie Bouchez; Miou-Miou; Gilles Lellouche; Jean-Pierre Darroussin
Drehbuch:Jeanne Herry
Kamera:Nicolas Loir
Schnitt:Francis Vesin
Musik:Pascal Sangla
Weblinks:kinofans.com;
Länge:118 Minuten
Kinostart:14.12.2023
Verleih:Studiocanal
Produktion: Chi-Fou-Mi Productions, Trésor Films; France 3 Cinéma;
FSK:6

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

„La justice restaurative c’est un combat“, also etwa „Restaurative Justiz ist ein Kampf“, heißt es gleich zu Beginn von ALL EURE GESICHTER. Damit ist das vielleicht Wichtigste zum Film gesagt: Denn wenn bei dieser Art der Wiedergutmachung etwas schief geht, dann aber auch gleich richtig schlimm! Aber diese Kurzform wird Jeanne Herrys Film nicht im Entferntesten gerecht. Die Französin, die Regie führte und auch das Drehbuch schrieb, führt in ihrem Film Straftäter und Opfer in einer Art Gesprächstherapie zusammen. Durch den Austausch erhält das Publikum ungemein authentische Einblicke in Ängste und Sorgen, Schuldgefühle, Familienleben und das, was eine kriminelle Tat auszulösen vermag.

Keiner der Akteure hat zumindest anfangs große Lust auf das Zusammentreffen. Die Opfer fürchten die Täter, die Täter die Reaktion der Opfer und dennoch wissen alle insgeheim, dass sie nur profitieren können. „Restaurative Justiz ist ein Kampf“ – Regisseurin Herry hat für ihren Film tatsächlich die Dramaturgie eines Wettkampffilms, eines Fightmovies, gewählt. Vor den Sitzungen begleitet die Kamera gezielt eine Seite, zeigt, wie die Akteure ‚fit‘ gemacht werden für die Begegnung in der Runde. Es kostet alle Teilnehmer Überwindung, Fragen zu stellen, aber auch zu beantworten.

Die ehemalige Kassiererin berichtet von ihrer Angst, von einem Ladendieb erkannt und vielleicht deswegen getötet zu werden, die Witwe erzählt, dass sie nicht mehr auf die Straße geht, seitdem ihr gewaltsam die Handtasche entrissen wurde. Und auch die Inhaftierten legen nach und nach offen, wie es um sie steht, warum sie ihre Taten begangen haben und auch, dass sie befürchten, wieder straffällig zu werden. Bei den mediativ begleiteten Gesprächen im Gefängnis wird es ernst für alle Beteiligten. Mit größtmöglicher Sensibilität und Nähe, manchmal beinahe zärtlich, manchmal beunruhigend eng, begleitet die Kamera die Akteure dabei, wie sie offenlegen, was die Taten aus und mit ihnen gemacht haben. Dabei geht es um Schuld und große Wut und es geht ums Verzeihen, vor allem aber geht es um Schmerzen: um die, die Anderen zugefügt wurden und auch die eigenen, die in der Selbstreflektion entstehen.

Neben der Gesprächsrunde im Gefängnis erzählt ALL EURE GESICHTER auch noch die Story von Chloé, die als Kind von ihrem Bruder missbraucht wurde und nach 20 Jahren eine Aussprache möchte, sowie die Geschichte der ehrenamtlichen Mediatoren, die sich in jeder Minute ihres heiklen Auftrags bewusst sind, niemals zu viel voraussetzen zu dürfen und niemals Zwang auszuüben. Alle Geschichten sind wichtig, weil sie alle sehr unterschiedliche Aspekte der ‚Justice Restaurative‘ ansprechen.

Gesichter, Stimmen und Erlebnisse sind das Material, aus dem ALL EURE GESICHTER gemacht ist. Aber Dialoge spielen im Film die weitaus größte Rolle. ALL EURE GESICHTER nutzt dafür nicht banales Geschwätz. Jedes einzelne Wort ist wichtig, jeder Satz bedeutsam, weil Aktionen und Emotionen ausgedrückt werden, weil er mehr über Personen erzählt als jeder Lebenslauf fassen kann, aber vor allem, weil es um echte Verletzungen, um Traumata geht. ALL EURE GESICHTER droht niemals langweilig zu werden, denn was der Film nach und nach offen legt, nimmt sein Publikum als echte Erfahrung mit nach Hause. In der Diskussion hat die Jury mit großer Anerkennung festgestellt, dass Herry den Mut hat, ihr Format konsequent durchzuhalten. Atmosphärisch dicht und absolut souverän führt sie die Story, genauso behutsam wie nah an den Protagonisten und ihren Geschichten. Dass hätte sicherlich niemals so gut funktionieren können, wenn Regisseurin Herry nicht auf einen exzellenten Cast hätte zurückgreifen dürfen. Neben Miou-Miou, Jean Pierre Darroussin und Gilles Lellouche hat sie auch Adèle Exarchopoulos und Élodie Bouchéz für ihr Filmprojekt begeistern können. Alles Stars des französischen Kinos, die im Vertrauen auf Regisseurin Jeanne Herry wirklich Großartiges auf die Leinwand bringen.

ALL EURE GESICHTER ist intensiv, manchmal hart, immer aber optimistisch. Und wenn der Film manchmal auch wie ein Dokumentarfilm wirkt: ALL EURE GESICHTER ist eine Fiktion, ein genauso waschechter wie großartiger Spielfilm über ein außerordentlich wichtiges Thema. Ein Film, dem die Jury genauso gerne wie auch einstimmig das Prädikat BESONDERS WERTVOLL verleiht.