FBW-Pressetext

Dass er ein ganzer Mann ist, zeigt Derya schon in der ersten Einstellung, in der der 53-jährige vom hohen Sprungturm ins Wasser zischt. Bewundernswert hält der faszinierende Dokumentarfilm über einen türkischen Busfahrer aus Ludwigsburg die Balance zwischen Selbstinszenierung und kritischem Porträt. In der Türkei war er einst ein Kämpfer für den Sozialismus, heute in Deutschland geht es um die Behauptung als Mann. Das ist ein hochinteressanter Stoff.
Prädikat wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Kurzfilm
Regie:Sebastian Heinzel
Drehbuch:Sebastian Heinzel
Länge:40 Minuten
Produktion: Filmakademie Baden-Württemberg GmbH, Fabian Maubach

Jury-Begründung

Prädikat wertvoll

Dass er ein ganzer Mann ist, zeigt Derya gleich in der ersten Einstellung dieses Filmporträts: Mit perfekter Haltung springt der 53jährige vom hohen Sprungturm ins Wasser. So will er gesehen werden. Und eine Zeitlang wirkt der Film auch wie eine Selbstinszenierung.

Er erzählt von seinem abwechslungsreichen und abenteuerlichen Leben – davon, wie er 1971 mit dem Namen Ali nach Berlin kam, sich politisch engagierte und seinen Kampfnamen annahm, der „Ozean“ bedeutete. 1975 reiste er dann in die Türkei, wo er ins Gefängnis kam und gefoltert wurde. „Das war eine schöne Zeit“, sagt er ohne erkennbare Ironie, denn dort habe er als einziger politischer Gefangener agitieren können.

Es gibt auch wunderbares Bildmaterial aus seinen Zeiten als Kämpfer für den Sozialismus, denn 1983 wurde schon einmal ein Film mit ihm gedreht, in dem er wie ein revolutionärer Märtyrer aussieht, der in nachgestellten Protest-, Kampf- und Folterszenen agiert. Heute arbeitet er als Busfahrer in Ludwigsburg, aber man braucht sich nur in einer fast schon anrührend entlarvenden Szene anzusehen, wie sorgfältig er sich die Haare und den Schnurrbart kämmt, um zu erkennen, wie bedacht nach seinem Bild er immer noch ist.

Ein sehr widersprüchlicher Charakter also: einer, der zugleich sehr eloquent sein eigenes Leben analysieren kann und seine inneren Konflikte vor der Kamera offenbart. Doch einen eigenen Ton, der nicht von Derya diktiert ist, findet der Film erst dann endgültig, wenn auch Deryas geschiedene Ehefrau, seine Tochter und eine ehemalige deutsche Freundin von ihm erzählen, seine Erinnerungen an die gemeinsam verlebte Zeit korrigieren, und ihn manchmal in einem alles andere als schmeichelhaften Licht erscheinen lassen.

Durch diese Gegenpositionen bekommt der Film in der zweiten Hälfte eine ganz unerwartete Komplexität und Tiefe. Sebastian Heinzel ist eine faszinierende Dokumentation gelungen, die auch filmisch überzeugt.

So etwa durch die raffinierte Montage und den schönen Effekt mit den Zwischentiteln, die auf den Schriftschildern von Deryas Bus angezeigt werden. Eine simple, naheliegende Idee, auf die man aber erst mal kommen muss.