Wir sind dann wohl die Angehörigen

Kinostart: 03.11.22
2022
Filmplakat: Wir sind dann wohl die Angehörigen

FBW-Pressetext

Die Geschichte der Reemtsma-Entführung aus der Perspektive des Sohnes. Kraftvoll, empathisch und absolut eindrucksvoll.

Im März 1996 wird der Publizist Jan Philipp Reemtsma entführt. Und während die Ermittlung fieberhaft läuft, sind seine Frau und sein Sohn Johann zum Ausharren in ihrem Zuhause verdammt. Nur zwei Betreuer der Polizei, der Anwalt der Familie und ein enger Freund sind bei ihnen und warten auf den Anruf der Entführer zu einer möglichen Geldübergabe, die diesen Alptraum beenden kann. Basierend auf den Erinnerungen des Sohnes erzählt Hans-Christian Schmid mit einem genauen Gespür für Atmosphäre und zwischenmenschliche Stimmungen die Geschichte einer Entführung aus einer außergewöhnlichen Perspektive.

Schon zu Beginn des Films ist die Kamera von Julian Krubasik nah bei dem Sohn, der von den Ereignissen überwältigt und überfordert erscheint und alles in einer Art Trance beobachtet. Diese Perspektive ist es, die Hans-Christian Schmid mit sensibler Hand inszeniert, basierend auf den Erinnerungen von Reemtsmas Sohn Johann Scheerer. Die Mischung aus sachlicher, beobachtender Distanz und empathischer Nähe zu den Protagonist*innen zeichnet die Regieführung und das Drehbuch (co-geschrieben mit Michael Gutmann) aus. Die Angst und die allgemeinen Empfindungen der Figuren werden nicht voyeuristisch ausgeschlachtet, der Score ist zurückgenommen, es gibt keine überdramatisierten Wendungen, eine abwartende Ruhe überlagert die Sequenzen im Haus der Familie, welches als Setting perfekt in Szene gesetzt wird. Denn die Gemütlichkeit eines Heims, die sich in den Möbeln und der Alltags-Unordnung spiegelt, wird konterkariert von der wie betäubend wirkenden Stille. Das Ensemble der unfreiwilligen „Wohngemeinschaft“ ist großartig gecastet, vor allem Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer macht den Spagat zwischen Hilflosigkeit und Aktionismus eindrucksvoll nachvollziehbar. Doch im Zentrum des Geschehens, meist als stiller Beobachter, steht Johann. Claude Heinrich spielt den 13-jährigen Jungen mit großem Einfühlungsvermögen als sensiblen Teenager, der aufgrund dieser existenziellen Situation zwischen Trotz, Hilflosigkeit und unschuldiger Kindlichkeit hin- und herschwankt. In dieser außergewöhnlichen Form eines Kammerspiels findet Schmid immer wieder Bilder und Momente, in denen er die einzelnen Figuren zusammenführt und Konflikte mit Gesten und Blicken und reduzierten Dialogen ausfechten lässt. Bis hin zu einem ikonischen und hoffnungsvollen Schlussbild, in dem so viel Ruhe und Kraft liegt, dass es die Zuschauenden mit einschließt. Ein bemerkenswerter und kraftvoller Film.

Filminfos

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Als Jan Philipp Reemtsma im März 1996 entführt wird, wird die Öffentlichkeit davon nicht unterrichtet. Die Hamburger Polizei hat ein Presseembargo verfügt, das tatsächlich auch eingehalten wird. Auch für Reemtsmas Familie wird die Entführung die schwierigste Zeit ihres Lebens werden. Abgeschnitten von der Außenwelt bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass alle Bestrebungen erfolgreich sind, Ehemann und Vater wohlbehalten zurückzubekommen. Vor vier Jahren erschienen die Erinnerungen von Reemtsmas damals 13-jährigem Sohn Johann als Buch. Hans-Christian Schmids WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN ist die berührende Verfilmung des Buchs.

Wie fühlt es sich an, wenn man nachts geweckt wird und dann von seiner Mutter erfährt, dass der Vater entführt wurde? - Wie erlebt man das Eintreffen der Polizei? Wie ist es wenn man mit niemandem über den Verlust des Vaters sprechen darf? - Johann Scheerer hat es mit 13 Jahren erleben müssen. So lang wie möglich versucht Schmids Film konsequent aus Sicht von Reemtsmas Sohn zu berichten. Selbsterklärend, dass dies ohne dramaturgische Probleme nicht über die vollen zwei Stunden Lauflänge erfolgen kann. Umso bemerkenswerter, dass sicher der Film hinsichtlich des Blickwinkels über lange Zeit, nämlich bis zur missglückten, ersten Lösegeldübergabe, treu bleibt. Aber auch in der Folge kehrt er immer wieder zum Erleben der Situation aus Perspektive des 13-jährigen Protagonisten zurück.

Dass WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN dennoch nicht an Spannung und Authentizität verliert ist nach Ansicht der Jury zum Einen der routinierten Regie geschuldet, genauso aber auch der fantastischen Besetzung des Johann mit dem 16-jährigen Claude Heinrich. Immer ein wenig neben der Spur, pubertierend in Gedanken versunken, um dann doch im entscheidenden Moment die richtigen Fragen zu stellen, einen dermaßen authentischen Eindruck hinterlassen nicht viele Schauspieler seines Alters. Insgesamt aber kann Schmid auf einen genauso guten, wie unverbrauchten Cast zurückgreifen. Bis auf Justus von Dohnányi, Enno Trebs und Hans Löw überrascht WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN mit selten gesehenen Talenten.

Äußerst interessant auch die Darstellung der Polizei, die im Hause Reemtsma Quartier bezieht. Zunächst noch Retter in der Not und Seelsorger zugleich wird sie zunehmend zum Eindringling, der gefährlich auf die Stimmung der Familie einwirkt. WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN ist ein Psychogramm einer unter äußersten Stress geratenen Familie. Der Film zeigt deutlich, dass nicht nur das Entführungsopfer gelitten hat, sondern auch sein familiäres Umfeld. Genauso aber ist der Film auch eine Coming-of-age-Geschichte, die von einem Erwachsenwerden unter schwierigsten Bedingungen berichtet. Immerhin lebt der heranwachsende Johann gut einen Monat lang rigider von der Außenwelt abgeschirmt, als die meisten Kinder unter Pandemiebestimmungen.

Immer wieder aber, so glaubt die Jury zu erkennen, ist der Film im Laufe der Produktion leider auch zum Wunschkonzert beteiligter Redaktionen geworden. Dort, wo sich der Mitsprachewille besonders der öffentlich-rechtlichen Filmförderer erkennen lässt, bremst er die dramaturgische Entfaltung des Films immer wieder aus. Das ist schade für diesen an sich spannend und gut gemachten Film. Dennoch freut sich die Jury nach einer intensiven Diskussion WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN mit dem Prädikat besonders wertvoll auszeichnen zu können.