Picco

Kinostart: 03.02.11
2010
Filmplakat: Picco

FBW-Pressetext

In einem Jugendgefängnis ist der Neuankömmling immer der Schwächling, der Kleine. Darum nennen ihn auch alle „Picco“. Diese Wahrheit muss auch Kevin akzeptieren, der sich innerhalb der unbarmherzigen und knallharten Strukturen des Gefängnisalltags wiederfindet. Es herrschen Aggression und Frustration, und Kevin findet schnell heraus, dass es besser ist, keinerlei Schwäche zu zeigen, denn einmal Opfer, immer Opfer… Der Filmhochschulabsolvent Philip Koch hat mit seinem Debutfilm etwas geschafft, was sehr selten gelingt: Ein Film, der dem Zuschauer geradezu körperlich nahegeht, der aber immer die Distanz wahrt zum Geschehen und nie der Gefahr erliegt, die Lust an der Gewalt visuell auszuschlachten. Der Zuschauer sieht so gut wie keine Brutalität im Bild, doch sind die Grundlagen für ein verstörendes Kopfkino die ganze Filmlänge über gegeben. Koch lässt sich Zeit, jeder Figur den passenden Raum zu geben, wertet nicht, lässt das Unaussprechliche auch einfach mal unkommentiert. Die Darsteller spielen so überzeugend, dass ihr Miteinander schon fast etwas Dokumentarisches aufweist, dadurch kommt man ihnen nah und folgt ihnen bis in ihren Kopf. „Picco“ tut weh, ist unbarmherzig und grausam. Ein schlicht großartiger Film!

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Philip Koch
Darsteller:Frederick Lau; Willi Gerk; Martin Kiefer; Constantin von Jascheroff; Leonie Benesch; Rainer Bock; Joel Basman; Edin Hasanovic; Jule N. Gartzke
Drehbuch:Philip Koch
Kamera:Markus Eckert
Schnitt:Andre Bendocchi-Alves
Webseite:picco-film.de;
Länge:106 Minuten
Kinostart:03.02.2011
Verleih:Movienet
Produktion: Walker + Worm Film GmbH & Co.KG
FSK:16
Förderer:HFF München

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Vielleicht weniger das Leben an sich als mehr das gesellschaftliche Leben in einer Sonderstellung, einer „Enklave“... Die Sprache der Liebe übersetzt in eine Sprache der Gewalt. Die Sprüche auf den Wänden der Jugendvollzugsanstalt signalisieren es in ihrer verkürzten Poesie: „In this house you have only one friend, yourself.“

Kevin ist ein Neuankömmling in der JVA. Er muss sich bewähren. Andy, Marc und Tommy, die Mitinsassen seiner Zelle, dominieren die kargen Abläufe. Offensichtlich herrscht eine strenge Hierarchie. Selbst die Träume sind Angebot eines internen Wettbewerbs: Hauptsache weg. Richtig feiern. Einen wegstecken. Wovon träumst du, Picco? Das scheint die Bezeichnung für die Neuen. Kevin will ins Kino. Das ist kein großer Wunsch. Er muss mehr von sich preisgeben. Wie hat er es mit seiner Freundin getrieben? Sie erörtern Details. Aus den Gitterfenstern geworfene Papierflugzeuge werden an einem Faden zurückgezogen. Die Symbolik ist ebenso wenig verschlüsselt wie die der täglichen Formen der Erniedrigung und Provokation. In der Nacht lässt ein schreiender Häftling am Fernster die Inhaftierten nicht schlafen. Ein „Fensterrambo“. Eine Psychologin nennt es „Erziehungsvollzug“: Alles sei Teil der Bestrafung. Doch Kevin hat Furcht, dass er die Demütigungen nicht durchhält. Er freundet sich mit Tommy an, der sich seinerseits entsprechend durchsetzen musste. Juli, ein Inhaftierter aus einer anderen Zelle, wird in der Wäscherei von einem Mitgefangenen vergewaltigt. Für die anderen ist Juli eine „Schwuchtel“. Bibelzitate aus der Offenbarung kommentieren die beklemmende Atmosphäre: „Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf, und es stieg auf ein Rauch ... wie der Rauch eines großen Ofens, und es wurden verfinstert die Sonne und die Luft ... Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde, und ihnen wurde Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben.“

„Mit Worten tu ich der Seele weh“, sagt ein Inhaftierter, als dürfe man nicht mehr über das sprechen, was passiert. Das Leben in der JVA ist eintönig. Ein Kicker im Gemeinschaftsraum. Gelegentlich ein Video. Sie kiffen. Als Marc ein Video von der Freundin bekommt, will er es allein
sehen. Seine Freundin und ihr Neugeborenes. Eine Rührung in seinem kalten Gesicht. Das ist das Draußen.
Kevin erfährt in einer Besuchssituation schmerzlich, dass seine Freundin sich von ihm abwendet. „Wenn meine Eltern mich erwischen... ich kann nicht mehr kommen.“ Aus seiner Trauer wird Zorn. Beim Fußballspiel schlägt er einen Mitspieler zusammen. Und in der Zelle behauptet er sich nunmehr brutal und aggressiv gegen Tommy. Tommy wird zum Underdog. In der Nacht hören sie, wie Juli sich umbringt - oder umgebracht wird. Akustisch wird der Ausbruch der Gewalt in der eigenen Zelle vorbereitet. Tommy ist jetzt „Opfer“. Ein sehnsuchtsvoll von ihm erwarteter Brief wird verbrannt, ohne dass er ihn lesen kann. Das bisschen Privatleben, das sich in seinem Spind verbirgt, wird ihm genommen. „Häng dich weg, du Pisser“, heißt es in der Nacht, in der die Gewalt in der Zelle eskaliert. Sie schlagen und foltern ihn.

Die Mitglieder der FBW-Jury äußern sich berührt und betroffen: „Bittere Wahrheiten! Sehr präzise. Sehr stimmig.“ Die Längen des Films und kalten Farben sind beabsichtigt. Das Geschehen wird mit dokumentarischer Genauigkeit vermittelt. Jugendgewalt und ein unbeholfen scheiterndes Vollzugssystem werden mit bedrückenden Einstellungen bloßgelegt. Die Kritik an der Institution und den vorhandenen Gewaltpotenzialen innerhalb der Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Einige Juroren fragen sich, ob der Regisseur Philip Koch nicht auch ein Szenarium anthropologisch angelegten Miteinanders geschaffen habe, ein Szenarium, in dem die Grenzen zwischen existenzieller und essenzieller Gewalt verwischen. Doch nicht nur angesichts des auf wahren Begebenheiten beruhenden Films bleibt diese Überlegung fragwürdig. Die Spiegelung sozialer Realitäten durch ihre Ausklammerung im Jugendknast reduziert gesellschaftliche Wirklichkeit auf elementare Ansichten der Machtverhältnisse und ihrer Auswirkungen. Gewürdigt werden Regie, Kamera, Schnitt und schauspielerische Leistungen. Die Atmosphäre des Films ist bis in ihre Nuancierungen sehr gut getroffen, die Entwürdigung des Menschen in jedem Winkel der Räume und auch von außen auf den Flächen der Gebäudefassaden spürbar. Ein deutlich politisch und pädagogisch wertvoller Film. Und doch evoziert der, als einer der konsequentesten deutschen Beiträge in Cannes betrachtete, Film Widersprüche. Nicht nur, dass er, wie es in einer Kritik heißt, an die Nieren gehe. Einige Juroren fragen sich, ob sie sich den Film allein ansehen würden, ob es sinnvoll und legitim sei, die Geschichte zu erzählen, wie sie der Film erzählt.

Die Betrachtenden würden dramaturgisch immer näher an die Gewalt und Gewissenlosigkeit herangeführt. Wenn Gewalt vielleicht auch nicht voyeuristisch vorgeführt werde, so verliere der Film doch die erzählende Distanz.

Die „Katharsis“, die etwa Robert Musil in seinem „Zögling Törleß“ bei vergleichbarem Geschehen bewahrt, scheint aufgehoben. Die Juroren verliehen dem Film nach kritischer Diskussion geschlossen das Prädikat besonders wertvoll.