Ich darf sie immer alles fragen

Filmplakat: Ich darf sie immer alles fragen

FBW-Pressetext

Den Kirschbaum hat er im Garten gepflanzt. Vor fünfzig Jahren. Als scheinbar treusorgender, liebender Vater. Nun lässt sie den Kirschbaum fällen. Als Tochter, die von dem Vater als Kind missbraucht wurde. Sie lebt schon länger wieder in dem Zuhause, das ihr einst Zuflucht und Bedrohung zugleich war. Nun geht sie es an, sich von den letzten Spuren zu befreien, die noch von früher zeugen. Damit sie sich eine Zukunft aufbauen kann. Eine Zukunft, in der sie lachen und befreit wachsen kann – genau wie die Setzlinge, die sie liebevoll in die nun freie Erde pflanzt. Der Kurzdokumentarfilm von Silke Schönfeld, in dem die Regisseurin ihre Mutter begleitet, erzählt sachlich und reduziert. Und doch geht nie der emotionale Aspekt der Geschichte verloren, die Bilder sind mit großer Sensibilität geplant und arrangiert, Schönfeld scheint genau zu wissen, worauf die Kamera den Fokus legen soll. Die Hände der Mutter, die die jungen Salatblätter mit Liebe in die frische Erde pflanzen, die Füße, die entschlossen gegen den auf dem Boden liegenden Stamm treten, das Fotoalbum, in dem so viele Bilder fehlen. Auf den ersten Blick erscheinen die Bildfolgen vage, doch durch die eingeblendeten Textbausteine, die die Situation der Mutter als Opfer eines Missbrauchs kontextualisieren, erhalten die Zuschauenden die Zeit und den filmischen Raum, selbst Verbindungen zu dem Gezeigten zu schaffen. Sowohl über das Gezeigte als auch über die bildlichen Auslassungen erzählt ICH DARF SIE IMMER ALLES FRAGEN klug, feinfühlig und sehr persönlich von einem komplexen Thema. Und gleichzeitig von einer bewundernswerten Frau, die dem Leben mit Kraft, Entschlossenheit und vor allem Liebe begegnet.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Kurzfilm
Regie:Silke Schönfeld
Darsteller:Silke Schönfeld; Helene Fulton
Drehbuch:Silke Schönfeld
Kamera:Tommy Scheer
Schnitt:Janina Herhoffer
Musik:Volker Hennes
Länge:15 Minuten
Produktion: Silke Schönfeld
FSK:12

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Ganz unscheinbar beginnt Silke Schönfelds Essayfilm mit Aufnahmen eines Gartens. Aber offensichtlich tut sich etwas, ein Baum wird für die Fällung vorbereitet. Dieser Baum steht für etwas Größeres. Daran lassen die einführenden Texttafeln keinen Zweifel. Es geht nicht um eine schiere Anpassung der Gartenplanung, sondern vielmehr um die Bearbeitung eines Traumas.

In unerwarteten Bildern, unscharf, aber nie unpräzise, nähert sich die Regisseurin diesem Trauma an. Mit großem Respekt für die Protagonistin, die eigene Mutter, die in ihrem Tempo um etwas kreist, das unaussprechlich ist. Bild und Text arbeiten hier eng zusammen und betonen die Diskrepanz zwischen dem, was man sieht und dem, was passiert ist. Die Haltung des Films und der Filmemacherin ist dabei klar, auch wenn sie mit Metaphern arbeitet. Durch die sehr präzisen Bilder des Gartens, des Wachsens, des Aussäens, öffnet ICH DARF SIE IMMER ALLES FRAGEN Räume für Interpretationen, die aber nicht in der Vergangenheit verharren, sondern wie der Titel im Hier und Heute stehen.

Und so endet der Kurzfilm auch positiv: Wenngleich das Trauma des Missbrauchs für immer bleiben wird, übernimmt die Protagonistin in einem Akt der positiven Selbstermächtigung die Kontrolle über den Garten. Sie fällt das Symbol des übergriffigen Vaters und verschafft sich Platz zum Atmen und Leben, das erste Mal seit 50 Jahren. Im letzten Bild sitzt sie zusammen mit ihrer Tochter, der Regisseurin, an jenem neuen Platz und vereinzelt kleine Setzlinge, damit sie Luft und Erde zum Wachsen haben.

Die FBW-Jury vergibt diesem wunderbar einfühlsamen Kurzfilm das Prädikat BESONDERS WERTVOLL.