Filmplakat: Homesick

FBW-Pressetext

In einem Kellergewölbe, fern von jeder Zivilisation und abgeschottet vom Tageslicht, erkundet eine Forscherin die verwinkelten Gänge. Dabei trifft sieauf Gestalten, die zwar eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Doch jeder haust für sich, Kontakte sind verboten. Denn sie sind ansteckend. Ansteckend, durch ein Virus, von dem keiner mehr weiß, wie es gestartet ist. Vielleicht waren es ja Erdbeeren? In seinem neuesten Kurzexperimentalfilm behandelt der Filmemacher und Künstler Bjørn Melhus das Thema Corona, ohne es auch nur einmal wörtlich zu erwähnen. Doch die Isolation der Figuren, in deren Ausgestaltung und Kostümierung Melhus und sein Team unsagbar viel Kreativität stecken, und die Suche nach einer Erklärung ist allgegenwärtig. Verdoppelt wird dies auch durch die Tonebene und das Markenzeichen des Filmemachers: das auditive Found-Footage aus bekannten postapokalyptischen Filmen wie TWELVE MONKEYS oder CONTAGION. Wie ein Chamäleon wandelt Melhus in seiner Darstellung zwischen den Figuren, die Tonextrakte montiert er in immer neuen Taktierungen und Reihenfolgen zusammen, sodass immer wieder neue Kontexte und Interpretationsräume entstehen. Ein herausforderndes filmisches Experiment und eine kluge Reflektion eines der dominantesten Themen unserer aktuellen Zeit.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Bjørn Melhus
Darsteller:Bjørn Melhus
Drehbuch:Bjørn Melhus
Kamera:Ben Brix
Schnitt:Bjørn Melhus
Musik:Max Schneider
Länge:14 Minuten
Verleih:Kunsthochschule für Medien Köln
Produktion: Limboland Productions Bjørn Melhus
FSK:12
Förderer:FFA

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Es wirkt wie ein einziger Alptraum, was Bjørn Melhus mit seinem Kurzfilm HOMESICK auf die Leinwand bringt. Im verwinkelten Keller trifft die Kamera auf obskure menschliche Gestalten, die augenscheinlich seit längerer Zeit kein Tageslicht mehr gesehen haben. Die Außenwelt scheint für sie tabu. Mantrahaft wiederholen sie simple Aussagen. Katastrophenstimmung beherrscht die Szenerie.

Es dauerte eine Weile, bis die Jury ihre Eindrücke gesammelt hatte, denn das offensichtliche Endzeitszenario geizt nicht mit Chiffren. In engen Kellergewölben vegetieren diverse Gestalten blind vor sich hin. Die stetig wiederholten Sätze, zu denen sie die Münder bewegen, sind offenkundig amerikanischen Endzeit-Filmen seit den 1950er Jahren entnommen. Akustisches Footage, das durch Melhus neue Bedeutung erhalten hat. Die Redundanz solchermaßen geloopten Materials kann, so die Jury, leicht nach hinten losgehen und dann abstoßend wirken. Hier aber scheinen die Aussagen bei jeder Wiederholung dichter und verzweifelter. Das mag an der gekonnten Inszenierung liegen, aber für die Jury dazu unzweifelhaft auch an den allen bekannten schaurig-schönen Tönen aus Hollywood.

Tatsächlich lässt HOMESICK viel Raum für die eigene Phantasie und Vorstellungswelt. Von „Monster“, „Cancer“ und „Plague“ ist dort die Rede, eine tödliche Bedrohung wird also impliziert. Von der Außenwelt ist kaum mehr zu vernehmen als streifendes Scheinwerferlicht und das Tönen von Lautsprecherdurchsagen. Aber das Szenario außerhalb ist ähnlich unklar wie die Lage innerhalb der Kellergewölbe. HOMESICK gestaltet sich so als eine Reflektion über den Zustand der Welt, eine Auseinandersetzung mit Bedingungen, die die Kellerbewohner:innen in ihre apathische Situation gebracht haben. Im weiteren Kontext aber ist der Film eine 14-minütige intensive Arbeit über die Bedingungen, die Ängste und die Schrecken, die es vermögen, Menschen zu entindividualisieren und damit zu apathischen, handlungsunfähigen Objekten zu machen.

Die Diskussionen um Corona-Maßnahmen der jeweiligen Regierungen erscheinen der Jury hier naheliegend, aber auch aktuelle Kriege und Verfolgungen tragen etwas zum Kontext bei. Letztlich zeigt sich HOMESICK als Parabel auf nicht geführte Auseinandersetzungen mit den zahlreichen Katastrophen unseres Seins. Als Allegorie auf Bedrohungen also, bei denen sich Betroffene wie Umstehende unfähig zur kritischen Auseinandersetzung zeigen und dem Ur-Reflex, bei drohender Gefahr Schutz zu suchen, nachgeben.

Offensichtlich hat Melhus nicht nur Buch und Regie übernommen, sondern auch, Cindy-Sherman-gleich, alle Charaktere selber dargestellt. Eine solche „One-Man Show“ hätte auch von der Jury kritisch wahrgenommen werden können, ist hier aber wirklich gelungen. Melhus‘ Maske ist hervorragend gelungen, und die kurzen Sequenzen, in denen er in verschiedenen wiederkehrenden Rollen zu sehen ist, überzeugen die Jury. Genauso gelungen erscheinen ihr Kamera und Schnitt, und die dauerhaft ansprechende, akustische Ebene ist für die Jury in der Tat herausragend gelungen. Melhus spielt über das Footage, wie auch dessen Gebrauch, mit den (Vor)Erfahrungen der Zuschauer, synthetisiert Schwarz-Weiß-Filmerfahrung mit realen Ereignissen und erzeugt dann mit nur einer einzigen Einstellung ernstzunehmende Authentizität, als er die Gestalten aus den Kellergewölben auf einem, an Videokonferenzen erinnernden, Bildschirm erscheinen lässt. Das lässt auch den Titel seines Films in neuem Licht erscheinen.

Nach ausgiebiger Diskussion und der Einbeziehung aller genannten Argumente zeichnet die Jury HOMESICK gerne mit dem Prädikat BESONDERS WERTVOLL aus.