Filmplakat: Erwin

FBW-Pressetext

Erwin ist eine geile Sau und will nur eines: Sex. So sagt er selbst. Dafür prostituiert er sich Nacht für Nacht in seinem Wohnwagen vor dem Haus, der längst zu einer dauerhaften Bleibe geworden ist in Videochats und kurzerhand auch vor der Kamera dieses Kurzdokumentarfilms. Fast mutet es an, als würde der Zuschauer hier eine Telefonsexwerbung schauen, wie sie im Nachtprogramm der Privatsender oft lief, aber Erwin ist mehr als ein Zahnrad in der exhibitionistisch-virtuellen Pornografiespirale. Erwin ist ein Mensch, der Beziehungen durchlebt hat, dem mehr als einmal das Herz gebrochen wurde und der ganz alltägliche Familiengeschichten zu erzählen hat. Durch intelligente Fragestellungen und eine wohl gewählte Montagetechnik lässt Regisseur Jan Soldat seinen Protagonisten die Erwin-Show mit Brustwarzenklammern und Aufforderungen zum Geschlechtsverkehr für kurze Zeit vergessen und trotzt im positiven Sinne so jeden vorurteilsbehafteten Erwartungen, die an Erwin gestellt werden. Was den Sex angeht, bleiben die Zuschauenden „unbefriedigt“ zurück. Umso reicher sind sie aber um das Gefühl, einem Menschen näher gekommen zu sein, der genau das in seinem Leben nicht oft zulassen konnte.
Prädikat wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Kurzfilm
Regie:Jan Soldat,
Schnitt:Jan Soldat
Länge:16 Minuten
Verleih:sixpackfilm
Produktion: Jan Soldat

Jury-Begründung

Prädikat wertvoll

Ein spärlich bekleideter Mann sitzt uns gegenüber in einem mit Laptop, Bett, Kaffeemaschine und Fernseher gut vollgestopften Wohnwagen. Die Fenster sind blickdicht verhängt und er spricht über sein Leben, vor allem über sein Liebesleben. Festgehalten in nüchternen und ruhigen Kadrierungen, läuft ERWIN im freundlichen Gespräch mit Regisseur (und Cutter) Jan Soldat auf zu hoher Auskunftsfreude und körperlicher Zeigelust. Mit seiner Webcam-Ausstattung beteiligt er sich seit langem aktiv an Sexchats, er erzählt von den großen Lieben seines Lebens zu bisexuellen Männern und von den Widrigkeiten einer schwulen Biografie auf dem Land in Österreich.
Der Film vermittelt auf erfrischende Weise ein quasi gleichberechtigtes Verhältnis zwischen dem Filmemacher und seinem Protagonisten. Sie „nutzen“ sich gegenseitig. Der Regisseur nutzt den Protagonisten, um „unterdokumentierte Lebens- und Beziehungsweisen“ für einen interessanten Kurzfilm einzufangen. Und Erwin nutzt den Umstand, dass ein Film über ihn gemacht wird für Enthüllungen, die der Selbstbehauptung und der Kontaktaufnahme zugleich dienen. Kulminierend in der Schlusseinstellung, in der Erwin uns mit seinem blanken Hinterteil verabschiedet.

Gerne hätte die Jury noch ein bisschen mehr über Erwins Leben erfahren. So gibt es neben dem Wohnwagen noch das Elternhaus, das wir nicht zu sehen bekommen; auch erfahren wir, dass er Pflichtbewerbungen beim Arbeitsamt absolviert, da er in „Maßnahmen“ ist. So richtig vorstellen können wir uns jedoch das Leben von Erwin nicht. Nichtsdestotrotz bewahrt der Film eine überzeugende Balance – und das ist vermutlich ästhetisch-ethisches Programm des Regisseurs – zwischen Intimität und Distanz. Gerne zeichnet die Jury im Anschluss an eine spannende Diskussion den Film mit dem Prädikat WERTVOLL aus.