Einzeltäter Teil 3: Hanau

Filmplakat: Einzeltäter Teil 3: Hanau

FBW-Pressetext

Der Dokumentarfilm von Julian Vogel arbeitet die Geschehnisse des rassistischen Terrorakts vom 19. Februar 2020 in Hanau minutiös auf und begleitet die Hinterbliebenen bei ihrem Kampf um eine lückenlose Aufklärung der Vorkommnisse.

Hanau, Stadtteil Kesselstadt, 19. Februar 2020. In einem rassistischen Terrorakt erschießt ein Mann zehn Menschen und sich selbst. Neun Opfer hatten eine Migrationsgeschichte, bei dem zehnten Opfer handelte es sich um die Mutter des Täters. Die Tat löste Entsetzen aus – und hinterließ neun trauernde Familien, denen im Bruchteil eines Augenblicks ein geliebter Mensch geraubt wurde. Wie kann man nach einer solchen Tat weiterleben, wie vergessen, wie gedenken? Der Filmemacher Julian Vogel hat die Familien der Opfer begleitet, die seit der Tat für Gerechtigkeit und lückenlose Aufklärung der Tatumstände kämpfen. Denn in der Nacht des 19. Februar 2020 und in den sich anschließenden Ermittlungen kam es zu Entscheidungen seitens Politik und Polizei, die mindestens kritisch zu hinterfragen sind. Und die es den Hinterbliebenen unmöglich machen, ihren Frieden zu finden.

In seinem Dokumentarfilm, der als dritter Teil einer Dokumentarfilmreihe (Erster Teil: München, Zweiter Teil: Halle) konzipiert ist, begleitet der Filmemacher Julian Vogel die Hinterbliebenen der Opfer rassistischer Terroranschläge. Es sind die Hinterbliebenen von: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Von Anfang an ist klar, dass es ihre Perspektive ist, die erzählt wird, dass es ihre Zeit ist, über das zu sprechen, was sie bewegt. Es geht um die Trauer, geliebte Menschen verloren zu haben, um die Angst, dass der rassistische Hass sich weiter in die Gesellschaft eingräbt. Und um die Wut auf ein Rechtssystem, bei dem sich die Opfer außen vorgelassen fühlen und von dem sie fordern, dass es Verantwortung übernimmt für Fehler, die gemacht wurden, vor und nach dem Attentat. Vogel und sein Team arbeiten die Ereignisse des 19. Februar minutiös auf und lassen Freunde, Geschwister und Eltern der Ermordeten zu Wort kommen. Sie erzählen ihre Geschichten, machen klar, wie sehr deren viel zu früh genommene Leben einen Verlust für Alle darstellt – und zeigen ungeheure, auch von Wut angetriebene Kraft im Zusammenhalt der Gemeinschaft, die sich im Kampf um Gerechtigkeit gegenseitig aufrichtet. Die Zuschauenden erhalten einen authentischen Einblick in diese Gemeinschaft, wozu auch die Kameraarbeit von Luise Schröder und Vogel selbst einen großen Teil beiträgt. Die Familien lassen die Filmcrew Teil „ihres“ Stadtviertels werden und machen klar: Hanau-Kesselstadt ist ihr Zuhause, ihre Heimat. Sie gehören hierher. Und die Menschen, die versuchen, durch rassistischen Terror genau das zu zerstören, diese Menschen gehören nicht hierher. Niemals.
Prädikat besonders wertvoll

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Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm
Regie:Julian Vogel
Drehbuch:Julian Vogel
Kamera:Luise Schröder; Julian Vogel
Schnitt:Gregor Bartsch; Sebastian Winkels
Musik:Milan Loewy
Länge:87 Minuten
Verleih:Corso Filmverleih
Produktion: Corso Film, Roelly Winker GbR
FSK:12

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Teil drei der dokumentarischen Reihe EINZELTÄTER von Julian Vogel widmet sich dem rassistischen Anschlag, der am 19. Februar 2020 in Hanau-Kesselstadt verübt wurde. Insbesondere stellt sich dieser kluge Film in seiner zurückgenommenen Art ganz in den Dienst der Hinterbliebenen, denn an einer Rekonstruktion oder gar eine Erklärung des gewaltsamen Übergriffs ist Vogel nicht interessiert. Vielmehr stellt der Film die Frage, wie ein Zusammenleben in Deutschland, einem Land, in dem solche Verbrechen offenbar möglich sind, aussehen kann.

Neun Menschen sind an mehreren Orten in Hanau gewaltsam zu Tode gekommen, doch blutige Bilder vermeidet EINZELTÄTER TEIL 3: HANAU um jeden Preis. Insgesamt ist der Film im besten Sinne nach vorne gewandt. Er erkundet mehr die Idee des Weiterlebens. Dabei schweifen die Gedanken selbstverständlich mehrfach zu den Getöteten, zu dieser schrecklichen Nacht der Tat zurück. Vogel lässt den Hinterbliebenen – Eltern, Freund:innen und Geschwistern – respektvoll den Raum, in ihrem Tempo und in ihren eigenen Worten zu berichten. Angenehm unforciert lernt man so nicht nur die Familien, sondern auch den Wohnort kennen, diesen Mikrokosmos Kesselstadt, an dem Opfer und Täter Tür an Tür wohnten. Und immer noch wohnen. Der Vater des Attentäters lebt noch in demselben Haus und verbreitet weiter rassistisches und rechtsextremes Gedankengut.

Ein Schlag in das Gesicht der Angehörigen, die sich – auch um der Vereinzelungs-Taktik der Staatsanwaltschaft zu entgehen – als Initiative für Demokratie organisiert haben. Mit der Kampagne #SayTheirNames erhalten sie das Gedenken, engagieren sich und fordern lückenlose Aufklärung des Falles, in dem auch Vorwürfe gegenüber der Polizei laut werden. Die Position der Behörden ist in dem Dokumentarfilm lediglich durch zwei nüchtern verlesene Protokolle vertreten, die Position des Täters wird gezielt ausgeblendet. Dies schafft einen Schutzraum: In Julian Vogels Film dürfen junge Männer offen von ihrer Angst berichten, wenn sie von der Polizei angehalten werden. Obwohl alle in Deutschland geboren und in Hanau aufgewachsen sind, stellt sich bei ihnen nicht die Frage, ob etwas zu bemängeln ist, sondern was dieses Mal gefunden wird.

Diese Vertrautheit der Protagonist:innen zum Regisseur ist das Schlüsselelement des Filmes. Die persönlichen Beziehungen und Geschichten an dem spezifischen Ort Hanau-Kesselstadt machen ihn zu einem lebenden Dokument von Zivilcourage und strahlen dennoch über die Einzelfälle hinaus. Vogel begibt sich kompromisslos auf die Ebene seiner Protagonist:innen, gibt erlebtem Alltagsrassismus Platz, der letztlich in dem Anschlag seine explosive Entladung gefunden hat. Einer Generalisierung entzieht sich Vogel dennoch, so einfach ist die Antwort nämlich nicht. Im Gegenteil, der Regisseur wagt die Frage: Warum engagiert ihr euch dann für dieses Land? Die Frage ist so einfach wie bedeutsam: Es ist unser aller Land, wir müssen es gemeinsam gestalten.

Die FBW-Jury vergibt einstimmig das Prädikat „besonders wertvoll“.