Das Schweigen

Kinostart: 24.01.64
1963
Filmplakat: Das Schweigen

Kurzbeschreibung

Zwei Schwestern und der kleine Sohn einer der beiden Frauen kommen in eine fremde Stadt, deren Bewohner eine unverständliche Sprache sprechen und die offenbar von kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesucht wurde. In einem labyrinthischen Hotel isoliert, sinken alle in lähmende Kommunikationslosigkeit.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Ingmar Bergman
Darsteller:Ingrid Thulin; Gunnel Lindblom; Binger Malmsten
Drehbuch:Ingmar Bergman
Kamera:Sven Nykvist
Schnitt:Ulla Ryghe
Musik:Ivan Renliden
Länge:96 Minuten
Kinostart:24.01.1964
Verleih:Atlas-Filmverleih
FSK:16

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Im Falle eines so außergewöhnlichen Films pflegt die Begründung für die Erteilung des höchsten Prädikats meist mit dem sachlichen Hinweis auf eine ausgedehnte Diskussion im Bewertungsausschuß zu beginnen. Diesmal jedoch war der Eindruck des Films so stark, daß zunächst eine längere Pause eingelegt werden mußte, da die Beisitzer sich erst aus der unmittelbaren Umklammerung durch den Film lösen mußten. Auch nach der längeren Pause bestand nur geringe Neigung zu einer ausgedehnten Diskussion, zumal die Beisitzer sich über den außergewöhnlich künstlerischen Rang dieses Films einig waren. So wurde denn das höchste Prädikat nahezu im Verfahren des Zurufes einstimmig erteilt.

Es schien dem Ausschuß angemessen zu sein, in seiner Begründung auf diesen seltenen Vorgang ausdrücklich hinzuweisen, zumal damit die fast unglaubliche optische Intensität und Faszination des Films "Das Schweigen" annähernd schon charakterisiert wird. Ingmar Bergman hat sich diesmal, im Gegensatz zu einigen seiner früheren Filme, ausschließlich auf die optische Aussagekraft des Films verlassen. Die Bildfolgen sind bis in das beiläufigste Requisit dermaßen dicht gestaltet, daß man ihnen schlechterdings nicht zu entrinnen vermag. Dabei bleibt die Kamera durchweg sehr ruhig; sie erstarrt geradezu vor der Leere, vor der Einsamkeit und der seelischen Qual einer Menschenwelt unter dem Schweigen Gottes. Ingmar Bergman erlaubt sich keine Kniffe und Gags. Sein Film ist in der Kameraarbeit denkbar unmodern. Die Großaufnahme des menschlichen Gesichts hat einen neuen künstlerischen Rang erreicht.

Es gibt in dem ganzen Film kein zufälliges Beiwerk. Jedes Eisenbahnteil, jedes Hotelzimmer, jede Straße und jedes Café ist eine ureigene Erfindung, eine filmische Erfindung von Igmar Bergmann. Der Betrachter wird umstellt mit lauter symbolischen Gegenständen, die nun freilich nicht in der gewohnten Art symbolisch wirken, sondern in ihrem optischen Zusammenhang eine Welt imaginieren, die sich in der alltäglichen Realität nicht vorfindet. Das ganze Drama ist schon ausgespielt während der einleitenden Fahrt im Eisenbahnabteil. Die schier endlose Dehnung dieser Exposition gehört zu den frappierenden künstlerischen Mitteln dieses Films. man ist in eine hoffnungslose Welt hineingerissen, ehe noch die beiden Schwestern mit dem kleinen Sohn der jüngeren Schwester das fast leere Hotel in einem fingierten Land betreten.

Die große Sprachlosigkeit gehört zu den unterströmigen Themen des Films, der daher auch nur spärlich und buchstäblichen Sinne notdürftige Dialoge kennt. Für die Einwohner jenes fingierten Landes hat Ingmar Bergmann eine eigene, nirgends anklingende Sprache erfunden, die niemand versteht. In der Schlusssequenz des Films sieht man den kleinen jungen in einem Eisenbahnabteil während er von einem Blatt Papier einige dürftige Worte in jener imaginären Sprache zu buchstabieren versucht, ohne den Sinn dieser Worte zu erfassen. So liest er die letzte Botschaft seiner Tante, die im Sterben liegt, eine unentzifferbare Botschaft , Buchstaben des Schweigens . Es gibt keine Sprache zwischen den Menschen, wenn Gott schweigt, nicht einfach die simpelste zwischen den elenden Bettszenen, nachdem die jüngere Schwester sich irgendeinen beliebeigen Kellner aus dem Cafe ins Hotel geholt hat. Die einzige Sprache spricht hier das Kettengeklirr ihrer Armbänder, die sie sich abstreift.

Die Sprachlosigkeit des Film wird durch die stark akzentuierten Geräusche oder durch kontrastierenden Klang der Kirchenglocken und Bach’scher Musik nur noch quälender. Das bloße Ticken einer Taschenuhr zerrt an den Nerven, und wenn sich dann gar der Lärm von Düsenjägern, Panzern und Straßenarbeiten mit den Keuchen der nackten Wollust mischt, dann findet sich der Betrachter auch akustisch umzingelt und kann in keine Distanz mehr entrinnen. Ingmar Bergmanns furchtbare Welt unter dem Schweigen Gottes hat unter der schöpferischen Kraft künstlerischer Gestaltung eine dringlichere Wirklichkeit angenommen als die geläufige Wirklichkeit. In dieser furchtbaren Welt gibt es letzten Endes nur noch rollende Panzer und eine sprachlos entleerte Sexualität, die sich selbst zur Qual wird. Und Zwerge dazu, die einzigen Bewohner jenes Hotels.

Wenn die ältere Schwester sich nach einem schrecklichen Anfall ihres Lungenleidens selbst das Laken über das Gesicht zieht, wie einem Toten, wenn der kleine junge in das Zimmer der Zwerge gerät und dort, als Mädchen verkleidet, zum Spaß der Zwerge herhalten muss, wenn die jüngere Schwester über dem Bettrand in ein hoffnungsloses Heulen und Gelächter ausbricht, indessen der Kellner aus dem Cafe sich immer noch an ihr zu schaffen macht – dann hat der Film Stationen des leeren Leidens erreicht, die Ingmar Bergmann mit der starr verweilenden, tief in die Szene sich einbohrenden Kamera wie Höllenvisionen gestaltet. Fast wäre man versucht, Bergmanns Regie angesichts solcher Stationen erbarmungslos zu nennen, wenn sie denn nicht ganz unwillkürlich Erbarmen freisetzen als den letzten noch möglichen Laut einer menschlichen Regung. Auch dieses sprachlose Erbarmen hat bei Bergmann Gestalt angenommen, und zwar in dem alten, selbst schon fast ohnmächtigen Oberkellner des Hotels, der der älteren Schwester während ihrer Anfälle beisteht. Neben dem zaghaften Hoffnungsschimmer in der Gestalt des kleinen jungen scheint dieser Oberkellner einen Schimmer von Licht in der Finsternis zu verbreiten.

Es ist nun allerdings die Aufgabe des Bewertungsausschusses von sich aus etwas zur Deutung dieses neuen Bergmann-Filmes beizutragen. Es kann sich auf die Feststellung beschränken, dass in einem Film nur sehr selten eine so unausweichliche Identität zwischen dem Inhalt oder der „Aussage“ und der filmischen Form erreicht wurde. Es gibt nicht viele Beweise für die Behauptung, dass der Film den Rang einer schöpferischen Kunst erreichen kann. Der Film „Das Schweigen“ ist freilich ein unwiderlegbarer Beweis dafür, zumal Bergmann sich der filmischen Form im Sinne der Dichtung bedient. Er schafft ein eigenes Abbild der Welt in ihrer Trostlosigkeit und ruft damit zum mindesten das Verlangen nach Trost hervor.

Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass der Film „Das Schweigen“ in voller Übereinstimmung mit der künstlerischen Gestaltung einen ethischen Wert enthält, und zwar im Kehrbild. Dieses Kehrbild zeigt einige Szenen, die heftige moralische Entrüstungen zur Folge haben werden. Solche Entrüstung kann freilich nur aufkommen, wo man sich der ungeheuer intensiven Wirkung dieses Film wieder setzt und ihn daher gar nicht erst als eine künstlerische Schöpfung akzeptiert. Der Ausschuss ist weit davon entfernt, mögliche bedenken gering zu achten. Es muss solche bedenken allerdings entgegengehalten werden, dass gerade die enthüllende Schonungslosigkeit dieser „bedenklichen“ Szenen jeden falschen Anreiz ausschließt. Die Beisitzer jedenfalls, die dem Film ohne Zögern insgesamt den Rang eines Kunstwerkes zubilligten, waren eher von der umgekehrten Frage bewegt, wie es denn möglich sei, dass derart schamlose Szenen im Zusammenhang des gesamten Filmes gerade keinen Anstoß erregen. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der reinen künstlerischen Gestaltung des Films, der das höchste Prädikat ohne jede Einschränkung unverzüglich zugestanden wurde.