Cahier Africain

Kinostart: 10.11.16
VÖ-Datum: 19.05.17
2016
Filmplakat: Cahier Africain

FBW-Pressetext

In Den Haag, am Internationalen Strafgerichtshof, liegt in einem Aktenordner ein dünnes Heft. Von außen sieht es aus wie ein normales Schulheft. Doch seine Seiten sind gefüllt mit unfassbaren Grausamkeiten. Grausamkeiten, die Menschen Menschen angetan haben. In dem Heft stehen die Aussagen von 300 Frauen, die im Jahr 2002 angegriffen, misshandelt, vergewaltigt, vertrieben wurden. Von kongolesischen Söldnern, die im Zuge des Krieges das Land heimsuchten und verwüsteten. Als in Den Haag der Prozess gegen Jean-Pierre Bemba beginnt, ist das Heft ein Beweismittel, um den ehemaligen Politiker wegen der Anordnung von Vergewaltigung als Kriegsstrategie und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen. Die Dokumentarfilmerin Heidi Specogna hat sich für CAHIER AFRICAIN seit 2008 mit dem Thema beschäftigt. Und genau das spürt man von der ersten Minute an. Der Film ist viel mehr als eine dokumentarische Auseinandersetzung mit einem Konflikt, er ist eine Beobachtung, eine Studie, eine Möglichkeit für den Zuschauer, sich hautnah in das Thema einzufinden. Die Erzählhaltung ist langsam, lässt die Zeit, sich mit den Begebenheiten und den Menschen vertraut zu machen. Es gibt wenige Protagonisten, die Specogna gezielt und ganz persönlich begleitet, doch diese bringt sie dem Betrachter wirklich nahe, ohne sie aber voyeuristisch preiszugeben. Da ist die Muslimin Amzine, die von einem Söldner vergewaltigt und schwanger wurde. Ihr Kind hat sie zur Welt gebracht. Dafür wird sie von ihrer Umwelt verurteilt und ausgestoßen. Und da ist die Christin Arlette, die von einer Kugel am Knie verletzt wurde und die mit ihrer Familie hofft, sich irgendwo wieder eine Existenz aufzubauen, den Krieg hinter sich zu lassen und wieder in Frieden leben zu können. Dies sind nur zwei Frauen, die der Film über all die Jahre begleitet. Gleichzeitig macht der Film auch klar: Das Schicksal der Porträtierten ist das Schicksal von vielen, ist unabhängig von Religion und Politik. Immer wieder lässt Specogna die Kamera einfach an Gesichtern entlang gleiten, etwa beim Verfolgen des Prozesses gegen Bemba am Fernseher im Gemeindezelt. Die Bildsprache ist klar, nicht gekünstelt. Kein Kommentar von außen erklärt etwas – was wirkt, sind nur die authentischen unverfälschten Eindrücke, die der Film einfängt und damit auch immer wieder Bilder mit hoher Symbolkraft erschafft. Ein Beweis für eine unfassbar große Nähe und ein ebensolches Vertrauen, was die Filmemacherin zu den Menschen aufbauen konnte. Und umgekehrt. Denn man spürt, wie sehr auch Specogna dieses Thema am Herzen liegt. An manchen Stellen liegt auf den Bildern eine Musik, die aus dem Land selbst ist. Es ist eine anklagende Musik, eine intensive Musik, die den Betrachter zusätzlich an die Menschen auf der Leinwand bindet. CAHIER AFRICAIN ist eine Verbeugung vor dem Mut der Frauen, die gegen ihre Peiniger aussagen. Doch der Film ist auch ein Fingerzeig für Europa und zwingt, hinzusehen, wo Wegsehen oftmals bequemer und angenehmer ist. Denn in diesen 119 Minuten erfährt man mehr über die Wirklichkeit des Lebens, der Geschichte und der Tragödie Afrikas als in vielen Nachrichtenformaten zusammen. CAHIER AFRICAIN - eine immens wichtige Dokumentation. Ein klug reflektiertes Stück Zeitgeschichte. Und ein bewegender Film.

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm
Regie:Heidi Specogna
Drehbuch:Heidi Specogna
Kamera:Johann Feindt
Länge:119 Minuten
Kinostart:10.11.2016
VÖ-Datum:19.05.2017
Verleih:déjà-vu film
Produktion: PS Film Filmproduktion, Filmpunkt GmbH; Heidi Specogna Film; ZDF; 3Sat;
FSK:0
Förderer:FFA; BAK; Filmstiftung Zürich; Film- und Medienstiftung NRW

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Konzipiert als Langzeitdokumentation basiert der Film auf einem Fundus von Recherchen, Fotos, Briefen und Drehmaterial, der den Lebensweg seiner Protagonisten seit 2008 festhält. Der zufälligen Begegnung mit dem CAHIER AFRICAIN, einem Zeugenaussageheft, in dem die schrecklichen Vergehen an zentralafrikanischen Mädchen und Frauen aufgezeichnet sind, folgten sieben Drehjahre in denen Heidi Specogna die davon betroffenen Lebensgeschichten mit der Kamera verfolgt.

Lange Zeit war Lateinamerika das dokumentarische Forschungsfeld der Regisseurin Heidi Specogna. Einige ihrer wichtigsten Filme hat sie dort gedreht. Mit ihrer Dokumentation DAS SCHIFF DES TORJÄGERS wechselte die Regisseurin 2010 den Kontinent und begann offensichtlich eine afrikanische Filmographie. 2011 folgte CARTE BLANCHE, ein Film über Frauen, Männer und Kinder, die zwischen 2002 und 2003 in der Zentralafrikanischen Republik vergewaltigt wurden. Den Befehl dafür soll Kongos Ex-Vizepräsident Jean-Pierre Bemba gegeben haben. Bemba ermöglichte seinen Soldaten jene “Carte Blanche“ – einen Freibrief. CAHIER AFRICAIN erzählt diesen Strudel von Gewalt, Tod oder Vertreibung weiter. Im März 2016 ist Jean-Pierre Bemba schuldig gesprochen worden, 14 Jahre nach den verübten Taten.

Die große Qualität der Recherche bewegt diesen schweren Stoff. Wie in vielen ihrer Filme bedient sich Heidi Specogna unterschiedlicher Berichtsformen: lange Interviews mit Amzine, einer jungen muslimischen Frau, die als Folge einer Vergewaltigung ein Kind zur Welt brachte, Dokumente, arrangierte Fotografien und immer wieder eindrucksvolle Filmaufnahmen der wenigen Protagonisten des Films. Ohne jeden Off-Kommentar sprechen die Schilderungen der Betroffenen für sich. Mit ausdauernder Nachhaltigkeit folgt Specogna den individuellen Schicksalen, ohne den Blick auf das Ganze zu verlieren. Sie nimmt sich Zeit, bis aus der Genauigkeit punktueller Ereignisse eine glasklare, welthaltige, allgemeingültige Geschichte wächst. Trotz des vielen Leids gibt es einen Alltag, der in seiner Beiläufigkeit wichtige Zusammenhänge erklärt und die großen Fragen des Films nicht moralisiert. So intensiv verbunden und unglaublich nah war man den Menschen in Afrika bisher sicher nicht oft.