Blindgänger

Kinostart: 29.05.25
2024
Filmplakat: Blindgänger

FBW-Pressetext

Eine Blindgänger-Bombe droht mitten in einem Hamburger Wohnviertel hochzugehen. Doch die Evakuierung des Gebiets verläuft nicht ganz so reibungslos wie geplant. Regisseurin Kerstin Polte gelingt ein Episodenfilm voller dramatischer Schicksale und kleinen augenzwinkernd komischen Momenten, der auch dank eines großartigen Casts überzeugt.

Mitten in einem Hamburger Wohngebiet wird eine Bombe gefunden. Ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Und während die Evakuierungsmaßnahmen anrollen und das Entschärfungskommando die Zündung vorbereitet, treffen in diesem angespannten Moment Schicksale aufeinander. Da ist Lane, die in Abwesenheit ihres Chefs Otto, welcher eine lebensverändernde Diagnose vom Arzt erhalten hat, die Entschärfung übernehmen muss. Während der Vorbereitung hat Lane Ava kennengelernt, mit der sie sich mehr als nur gut versteht. Gleichzeitig denkt Lane aber auch permanent an ihre Mutter, die sich gegen das Evakuieren weigert, weil sie schon seit Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen hat. Und Ottos Frau Hanne versucht nach der Schockdiagnose ihres Mannes herauszufinden, wo sie eigentlich steht im Leben. Da wird die Bombe in der Nachbarschaft fast zur Nebensache.

Kerstin Polte (Buch und Regie) erzählt in dem Ensemblefilm BLINDGÄNGER unglaublich dicht von den verschiedenen Schicksalen, die mal mehr, mal weniger eng miteinander verknüpft sind. Dass die episodische Erzählung so gut funktioniert, liegt auch an der klugen Spannungsdramaturgie, die nie den Kern der Geschichte aus den Augen verliert, gleichzeitig aber jeder Figur den Raum für die eigenen Konflikte lässt. Wie ein Kaleidoskop entblättern sich die Handlungen, dabei wird klar, dass alle Figuren irgendwie verloren und allein wirken. Unterstützt wird diese Atmosphäre von dem exzellenten divers besetzten Cast, allen voran Anne-Ratte Polle, die Lane gleichzeitig spröde-burschikos und unsicher-verletzlich wirken lässt. Das Licht scheint nur sehr reduziert in die engen Wohnräume, auf der Tonebene herrscht abwechselnd Stille und dann wieder eine dröhnend-diffuse Soundkulisse aus verängstigt-wütenden Dialogen und einem nahenden stürmischen Unwetter. Mit BLINDGÄNGER wirft Kerstin Polte einen atmosphärisch stimmigen Blick auf die Großstadt Hamburg und inszeniert viele kleine Geschichten, die sich zu einem überzeugenden großen Erzählkosmos verdichten.

Jury-Begründung

Prädikat wertvoll

Im Hamburger Schanzenviertel wird bei Bauarbeiten eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Routine, denken zunächst die Frauen und Männer der Spezialeinheit der Feuerwehr zur Kampfmittelbeseitigung. Auch die Bewohnerinnen und Bewohner des dicht besiedelten, mit immer noch viel historischer Bausubstanz versehenen Viertels, sind nicht sonderlich aufgeregt. In den Wohnungen vermelden die Radiosender die erforderliche Evakuierung am nächsten Morgen. Der sorgenvolle Blick von Lana Petersen, erfahrene Bombenentschärferin, in Richtung eines alten Wohnhauses und die parallel laufenden Unwetterwarnungen sowie die Krebsdiagnose für den Chef des Entschärferteams kündigen das Drama an, das der Film langsam aber stetig anschwellend erzählen wird. Dabei erscheinen dem Zuschauenden die 24 Stunden vom Fund der Bombe bis zu ihrer Entschärfung wie in Echtzeit abgebildet.
In BLINDGÄNGER wartet die Drehbuchautorin und Regisseurin Kerstin Polte mit einer fein gewebten Erzählstruktur auf, die episodenartig das Leben verschiedener Menschen förmlich zur Explosion bringt. Die Jury diskutiert anhand der einzelnen Episoden, wie die Figuren und ihre Verschränkungen gelungen sind, und mit welchem erzählerischen Anteil dabei gearbeitet wird. Mal sind die Figuren sehr eng und familiär miteinander verknüpft, mal wird durch die Ereignisse eine Verbindung entstehen. Andere Figuren wiederum sind nur mittelbar am spiralförmigen Verlauf der Ereignisse beteiligt. An vielen Stellen gelingt es, diese Verbindungen und Auflösungen überzeugend zu erzählen. Manchmal aber erscheinen Dramatik und Wendung sehr konstruiert, so die Jury. Immer wieder springt die filmische Aufmerksamkeit zwischen den Bewohner*innen des Viertels und den Arbeitsumfeldern der Figuren: die Einsatzzentrale der Feuerwehr, eine Schule, ein Reisebüro, ein Kellerclub, verschiedene Wohnungen – so entsteht ein Gefühl von Enge und Dringlichkeit.
Insbesondere Kamerafrau Katharina Bühler sowie die Editorinnen Julia Wiedwald und Aurora Vögeli sorgen in ihren Gewerken dafür, dass alle erzählten Geschichten eine eigene Kraft erhalten, Unerwartetes überzeugend aufgefächert wird und durch die wechselnde Betrachtung der Ereignisse jede Figur auf andere Weise mit der gefundene Bombe verbunden ist. Dabei wächst die Spannung im Laufe des Films an. Die Jury hebt hervor, dass dadurch auch die Zuschauenden wie gefesselt an der Geschichte bleiben. Das Genre des psychologischen Dramas wird durch das dichte Spiel, das von einer klaren Regie geführt wird, sehr gut bedient. Die Jury diskutiert aber auch, ob es am Ende die etwas überforcierte Dramatik wirklich braucht, bebildert und auditiv unterlegt zum Beispiel mit dem einsetzenden Unwetter. Denn die Schicksale der Figuren und das Karussell ihrer Verbindung werden doch eher leise erzählt und durch intime Momente von Zusammengehörigkeit im Augenblick erspielt. Da passiert sehr viel über das Setting, wie in der Begegnung zwischen dem Bombenentschärfer Otto und dem alternativen Lebenskünstler Victor oder von Mutter Petersen und dem jungen Migranten Junis. Allerdings sieht bei Letzterem die Jury am Ende der Episode ebenfalls einen etwas überdramatisierten Plot.
Als weniger gelungen und etwas zu konstruiert diskutiert die Jury die Figur der Psychologin. Ihre plötzliche Solidarisierung mit Lana überzeugt nicht alle. Ebenso die Geschichte von Hanne, ihre Entscheidungen und Wendungen erscheinen der Jury nicht immer plausibel. Und durch die zahlreichen Erzähl- und Handlungsstränge drängt sich der Jury die Frage auf, was genau hier verhandelt wird.
Eine große Stärke entwickelt die Erzählung über die Bombe selbst, die die alte Frau Petersen an Fliegeralarm und Kellerverstecke in ihrer Kindheit in Hamburg erinnert. Für Junis dagegen, der aus einem Kriegsgebiet flüchten musste, gehören die Geräusche der Bomben zu seiner aktuellen Lebenssituation. Wir verstehen, so die Jury, dass diese Bomben, nicht nur als alte Fundstücke, noch sehr lange Zeit nicht aus der Welt sind. Das Drehbuch wartet mit sehr überzeugenden Dialogen auf und wird in der Diskussion ebenso gewürdigt wie die Musik von Daniel Hobi und Ephrem Lüchinger, die sparsam eingesetzt ist. Verletzliche, aber dennoch auch lebensstarke Frauen- und Männerfiguren wurden für diesen Film sehr wohltuend entwickelt. Die Jury würdigt den Cast, der von den erfahrenen Filmschauspieler*innen Claudia Michelsen, Anne Ratte-Polle, Bernhard Schütz und Karl Markovics souverän angeführt wird und bis in die kleinen Nebenrollen überzeugt.
Nach intensiver Diskussion und in Abwägung aller dargelegten Argumente vergibt die Jury sehr gern das Prädikat „wertvoll“.