Filmplakat: 21:71 Uhr

FBW-Pressetext

Eine ältere Person läuft durch ihre Wohnung. An der Garderobe hängt ein Mund-Nasen-Schutz. Ein einsames Leben. Wir begleiten die alleinstehende Person in ihrem Alltag. Hören Stimmen. Sehen Menschen. Plötzlich sind Räume nicht mehr dort, wo sie vorher noch waren. Sind Gesichter auf Fotos nicht mehr zu erkennen und im Wohnzimmer herrscht Chaos, wo vorher noch Ordnung war. Was davon ist Realität, was Erinnerung, was Einbildung? Dem Kurzexperimentalfilm 21:71 UHR der an der Kunsthochschule Kassel lehrenden Filmemacherin Joey Arand gelingt es, das Ende eines Lebens in Bilder zu übersetzen: Es ist ein Film über Demenz in Zeiten von Corona. Und ein Film über Einsamkeit. Ein Film über Themen, die derzeit tausende von Menschen betreffen – die aber mindestens für genauso viele Menschen nicht greifbar sind. Daher wirken die Bilder für den Zuschauer ebenso fremd, wie sie es für den Protagonisten wohl sind. Wie fühlt sich Demenz und Einsamkeit wirklich an? Dies macht der Film erfahrbar. Auf faszinierende und beängstigende Weise zugleich. Durch eine exzellente Kameraarbeit und eine kongeniale Montage gelingt in 11 Minuten der Eindruck eines perfekten „One-Shots“. Ein Meisterwerk der experimentellen Filmkunst am Puls unserer Zeit.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Joey Arand
Darsteller:Joey Arand; Valentin Delawarde; Reza Weber; Theresa Grysczok; Alma Weber; Hannah Schrem
Drehbuch:Joey Arand
Kamera:Alma Weber; Ferdinand Kowalke
Schnitt:Joey Arand
Länge:11 Minuten
Produktion: Joey Arand
Förderer:Hessische Kulturstiftung

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Die FBW-Jury hat dem Film das Prädikat besonders wertvoll verliehen.

In einer scheinbar ungeschnittenen Einstellung wird hier eine Wohnung erkundet. Die Kamera nimmt dabei die Perspektive des Bewohners ein: eines älteren Mannes, der an Demenz leidet. Überall in der Wohnung hängen Notizzettel als Erinnerungshilfen, vor allem aber bewegt sich der Protagonist und mit ihm die Kamera zögerlich durch die verschiedenen Zimmer. Er bewegt sich wie ein Fremder im eigenen Heim. Einige Räume wecken Erinnerungen. So sieht er dort seine Ehefrau, mit Freundinnen und einer Torte bei einem Kaffeekränzchen später in der Küche, wie sie ein Baby im Arm wiegt. Dabei hört er das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ – eine Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens, gerade auch wegen der zitierten Zeile „…Aber der Wagen, der rollt!“. Aber das Lied funktioniert auch auf einer weiteren Ebene, denn später wird es noch einmal gesungen, diesmal aber mit einem fragmentierten, zum Teil frei assoziierten Text. Und auch die Bilder an den Wänden verändern sich: auf den gemalten Porträts fehlen beim zweiten Blick auf sie Münder und Augen. Joey Arand gelingt es, einen extremen Gemütszustand mit Bildern und Klängen auszudrücken. Die Wohnung, in der der Protagonist offensichtlich einen großen Teil seines Lebens verbrachte, hat nichts Vertrautes an sich. Sie wirkt kalt und fremd und auch die Erinnerungen wirken kaum tröstlich. Arand hat diese Sequenzen auf 16mm Film gedreht und dann digital in den Film einmontiert. Sie wirken wie Geistererscheinungen, auch, weil sie dem sich Erinnernden nie direkt in die Augen sehen, und auch, weil sie auf der Soundebene durch einen irritierenden Sinuston verfremdet werden. Davon abgesehen hört man nur das langsame Schlurfen der Füße, das Ticken einer Uhr oder die Wohnungsklingel. Mitmenschen wie eine Pflegerin in der Küche oder ein Besucher an der Wohnungstür (beide mit Schutzmaske) werden gar nicht mehr wahrgenommen. Joey Arand arbeitet souverän mit der subjektiven Kamera. So zwingt der Film die Zuschauer*innen geradezu, mit den Augen und Ohren nur das wahrzunehmen, was der Protagonist noch erkennen und gedanklich verarbeiten kann. Zumindest in der Jury konnte sich niemand dem beklemmenden Eindruck entziehen, dass diese Welt immer fragmentarischer und chaotischer wird. Und so ist Joey Arand hier eine ganz eigene Art von „Horrorfilm“ gelungen.