Leben lassen

Filmplakat: Leben lassen

FBW-Pressetext

Irina weiß, dass es nicht leicht werden wird. Sie ist Altenpflegerin und tritt ihre neue Stelle im Haus des demenzkranken Johann Kreutz an. Am Anfang begegnen ihr Feindseligkeit und Aggressivität. Das kennt sie bereits. Doch eines Tages findet sie etwas über Johanns Vergangenheit heraus. Und sie muss sich entscheiden, wie sie mit dem Wissen umgeht. Denn die Frage bleibt: Ist Vergebung stärker als der Wunsch nach Rache? Felix Charin stellt diese Frage in den Raum, ohne eine Antwort dafür zu fordern oder nahezulegen. In einer kammerspielartigen Atmosphäre bereiten die beiden grandiosen Darsteller ein nahezu stummes Duell vor, bei dem man im Verlauf des Films förmlich auf eine Lösung des Konflikts hofft. Natalia Bobyleva als Irina zeigt all die Zerrissenheit einer Figur, die im Angesicht ihres Dilemmas nachvollziehbar ist. Und Horst Sachtleben verkörpert sowohl das unglaublich authentische Leid des alten kranken Mannes im Verfall und lässt doch immer wieder kleine Rückschlüsse auf die Traumata (und auch Vergehen) seiner Vergangenheit aufblitzen. Ein Film, der nicht mit Antworten endet, sondern im Kopf des Zuschauers seine Fortsetzung findet. Brillant erzählt.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Drama; Kurzfilm
Regie:Felix Charin
Darsteller:Natalia Bobyleva; Horst Sachtleben; Jasmin Schwiers
Drehbuch:Felix Charin
Kamera:Raphael Beinder
Schnitt:Beatrice Babin
Musik:Felix Charin; Lorenz Dangel; Markus Faust; Maxim Shagaev
Länge:29 Minuten
Produktion: Felix Charin, Via Distelberg; HFF München; BR; Arte;
Förderer:BKM

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Eine russische Altenpflegerin, Irina Rybakova, 59 Jahre, muss mit einem schwer dementen alten Herrn in seinem Haus fertig werden. Dabei ist sie in der Betreuungssituation völlig auf sich alleine gestellt. Der Mann ist gnadenlos jähzornig, unbeherrscht und verweigert sich in vielen Dingen. Zunächst geht sie professionell liebevoll mit seinen krankheitsbedingten Schwächen um. Bei der Körperpflege entpuppt er sich jedoch durch eine kleine Tätowierung als ehemaliger SS-Offizier. Ihr Verhalten ihm gegenüber verändert sich abrupt. Auch wir als Zuschauer sehen den Ablauf mit einem anderen Blick. Der Titel des Films erhält ein anderes Gewicht. Wir spüren förmlich das Betroffensein ihrer Vergangenheit.

Der Schwarz-Weiß-Film beschwört bereits zum Einstieg mit dem Blick auf ein winterliches Birkenwäldchen Bilder einer einsamen Landschaft um ein Vernichtungslager. Die Musik von Irinas Akkordeon, zu dem sie nach der Entdeckung der SS-Vergangenheit in ihrem kleinen Zimmer im ersten Stock des Hauses greift, bestimmt von nun an als Motiv des Leidens den Film wesentlich und lässt auch den mithörenden Dementen einen Stock tiefer nicht los, da die Musik offensichtlich seine Erinnerungen quälend wachruft. Er versucht sich zu wehren und setzt seine alten Befehle ein, die damals den sicheren Tod bedeuteten.

Ein ungewöhnliches Thema greift LEBEN LASSEN auf in seiner ernsthaften und tiefen Darstellung eines Konflikts zwischen der Pflegenden und dem Peiniger aus der Vergangenheit. Subtil und realitätsnah brillant wird dabei die Demenz dargestellt. In ruhigen Bildern begreift der Zuschauer die schwierige Konstellation und den inneren Kampf gegen die aufkommende Wut und die Kraft des Aushaltens und Abwägens. Dabei werden viele Assoziationen freigesetzt, denn der 27minütige Kurzspielfilm lässt offen und mutig Lücken zum Mitdenken und Mitfühlen bei beiden Protagonisten. Ist es eine subtile Rache, wenn er sein Leid weiterhin spüren soll und sie ihn deswegen leben lässt? Obwohl er selbst seinem Leben ein Ende setzen will, ist es dann Humanität, die dazu führt, das Leben doch zu schützen? Vielleicht gibt der Blick auf die heutige Ohnmacht des ehemaligen SS-Oberscharführers in seinem Leid eine Antwort?

Ein beeindruckender Film, der den Betrachter nicht so schnell los lässt.