Elaha

Kinostart: 23.11.23
2023
Filmplakat: Elaha

FBW-Pressetext

Das Langfilmdebüt der Filmemacherin Milena Aboyan ist ein beeindruckender Film über die innere Zerrissenheit einer jungen Deutsch-Kurdin zwischen den Glaubensgrundsätzen ihrer Familie und dem eigenen Wunsch nach Selbstbestimmung. Starkes Nachwuchskino mit einer grandiosen Hauptdarstellerin.

Die 22-jährige Elaha steht kurz vor ihrer Hochzeit. Als Deutsch-Kurdin ist die junge Frau in ihrem Alltag zwischen den althergebrachten Traditionen und Glaubenssätzen ihrer Familie und dem Wunsch nach Selbstbestimmung hin- und hergerissen. Als in einem Gespräch mit Freundinnen das Thema „Jungfräulichkeit vor der Ehe“ aufkommt, stellt Elaha fest, dass sie ein Problem hat. Denn die Eltern des Bräutigams können vor der Heirat von einer Braut verlangen, sich ärztlich untersuchen zu lassen, ob sie noch Jungfrau ist. Und Elaha hatte bereits Sex. In dem verzweifelten Bestreben, ihren Eltern keine Schande zu machen, ist Elaha entschlossen, eine Lösung für das Problem zu finden. Dabei hinterfragt sie jedoch gleichzeitig mehr und mehr, wo denn eigentlich das Problem liegen könnte.

Der Abschlussfilm in der Regie von Milena Aboyan (Buch co-verfasst mit Constantin Hatz) an der Filmakademie Baden-Württemberg erzählt auf eindringliche Weise von der Problematik einer jungen Frau, die zwischen zwei kulturellen Welten steht und dadurch das Wichtigste aus den Augen verliert: ihr eigenes Wohlergehen. Dass beim Zusehen eine so große Nähe zur Protagonistin entsteht, liegt nicht nur an der authentischen Dialoggestaltung und der exzellenten Kamera, die Elaha immer wieder wie ein Gedankenkarussell zu umkreisen scheint und sie genau wie die ständig kontrollierenden Blicke fixiert. Es liegt auch an der phänomenalen Schauspielleistung von Bayan Layla, die den inneren Konflikt Elahas in jedem Blick, in jeder Geste deutlich werden lässt. Die Liebe zu ihren Eltern, das Festhalten an Traditionen, die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung – Layla benötig oft nur einen einzigen Blick, um diesen Zwiespalt deutlich werden zu lassen. Dass es zu Beginn und zum Ende des Films ein direkter Blick in die Kamera ist, macht die Einladung an das Publikum, sich in die Situation Elahas einzufühlen, nur umso eindringlicher. Der Score ist so feinfühlig eingesetzt, dass er den inneren Kampf Elahas unterstützt, aber die Emotionen den Zuschauenden nie aufdrängt. Dass sich ELAHA einem solchen, oftmals immer noch tabuisierten Thema annimmt und es auf eine erfrischend direkte Weise vermittelt, ist ein großer Verdienst des Films, der all seine Figuren ernstnimmt, keine Position oder Haltung verurteilt, aber sich dennoch deutlich auf die Seite seiner Hauptfigur stellt. Die sich letzten Endes ganz allein entscheiden muss, welchen Weg sie für sich einschlagen wird.

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Milena Aboyan
Darsteller:Bayan Layla; Armin Wahedi; Derya Dilber; Derya Durmaz; Cansu Leyan; Beritan Balci; Slavko Popadić; Nazmi Kirik; Réber Ibrahim; Homa Faghiri; Hadnet Tesfai
Drehbuch:Milena Aboyan; Constantin Hatz
Kamera:Christopher Behrmann
Schnitt:Elias Ben Engelhardt
Musik:Kilian Oser
Webseite:kinescopefilm.de;
Jugend Filmjury:Lesen Sie auch, was die Jugend Filmjury zu diesem Film sagt...
Länge:111 Minuten
Kinostart:23.11.2023
Verleih:Camino Filmverleih
Produktion: Kinescope Film GmbH, Filmakademie Baden-Württemberg; Essence Film; SWR; Arte;
FSK:12
Förderer:MFG Baden-Württemberg; Nordmedia

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Schon das erste Bild mit Elaha weckt den Verdacht, dass dieser Film uns als Publikum gezielt herausfordern will. Denn die Protagonistin sieht uns durch die Kamera herausfordernd an. Und gleichfalls schon sehr früh – in der ersten Sequenz, die auf einer kurdischen Hochzeit spielt – stellt sich heraus, dass Elaha ein Geheimnis mit sich trägt, das sie weder ihrem kurdischen Verlobten Nasim und dessen Familie noch ihren eigenen kurdischen Eltern verraten kann: Sie geht nicht jungfräulich in die Ehe. So versucht Elaha alles, damit beim ersten Sex nach der Heirat die erwartete Blutung einsetzt. Eine Operation aber ist teuer und die Zeit läuft ihr davon.

Elaha auf ihrem Weg der Problemlösung zu begleiten, ist physisch wie psychisch eine Herausforderung für das Publikum. Die Kamera folgt ihr auf Schritt und Tritt, wird aber nie aufdringlich (auch bei Intimszenen nicht), bleibt vielmehr einfühlsam und wertet nicht. Dabei geraten Elahas Versuche, ihren Kopf aus der Schlinge patriarchaler Strukturen ziehen, zunehmend ambivalent, zumal sie es allen recht zu machen versucht. Lange Zeit geht sie dabei auffallend konzentriert und diszipliniert vor und nutzt alle Möglichkeiten, die sich ihr bieten. In ihren Freundinnen hat sie wichtige Verbündete. Auch sie widersetzen sich im Geheimen den Regeln, die nur ihnen, nicht aber den Männern auferlegt werden. Doch der Druck auf Elaha steigt kontinuierlich und erzeugt eine Belastung, die irgendwann nicht mehr auszuhalten ist. Dies wird dramaturgisch überzeugend aufgebaut und von Bayan Layla ebenso überzeugend verkörpert. Durch den starken Fokus auf die Protagonistin geraten einige Figuren, so etwa ihr Vater, der ehemalige Häftling Yusuf und auch die Lehrerin Stella etwas schwächer konturiert. Andererseits ist dieser so schwache und nebengeordnete Charakter des Vaters auch ein geeignetes Zeichen dafür, dass das patriarchale System bereits im Niedergang begriffen ist.

Das Dilemma, in dem sich Elaha befindet, manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass sich der Film einem geschlossenen Ende verweigert. Genau genommen hat der Film mehrere Enden. Für Elaha ist der Suizid keine Lösung, aber auch eine Ehe mit Nasim oder ein kompletter Ausbruch aus ihrem soziokulturellen Umfeld, um es mit dem einfühlsamen Yusuf zu probieren, sind allesamt Lebenskonzepte auf wackligen Füßen. Die Erzählung muss offen bleiben, denn für Elaha wird es keine leichte Lösung geben. Hierfür findet der Film ein beeindruckendes Schlussbild.

Der erneute Blick Elahas in die Kamera gegen Ende rahmt die Handlung ein, steht aber eher für die Offenheit eines Films, dessen Qualitäten die Jury uneingeschränkt als „Besonders Wertvoll“ beurteilte.