Heute hab ich keine Zeit

Filmplakat: Heute hab ich keine Zeit

FBW-Pressetext

Der Au-pair Aufenthalt in England kurz nach dem zweiten Weltkrieg hat Hildegard A. für ihr weiteres Leben sehr geprägt. Alles war anders als in Deutschland und es zog sie zur Ausbildung in das Auswärtige Amt nach Genf. Fremde Kulturen flackern auf in ihren Reise-Erinnerungen, während sie im Wohnzimmer ihre vollgepackte Truhe durchstöbert. Ein Leben in Dokumenten, Briefen, Reiseführern, Fotos, Prospekten. Kostbarkeiten. Eigentlich sollte sie endlich mal aufräumen. Doch heute hat Hildegard A. keine Zeit. Der Kurzdokumentarfilm in der Regie von Dagmar Scheibert basiert auf Aufnahmen der über 80 jährigen. Und obwohl das Interview nur in wenigen Einstellungen gedreht ist, so lassen die Nahaufnahmen von Reinhard Eisener (Montage: Emma Alice Gräf) ganz viel von dem Leben erkennen, was sich hier in knapp sieben Minuten entblättert. Das zarte Porzellan im Vitrinen Schrank, eine moderne Skulptur in der Totalen und der Close-Up der mit edlem Schmuck verzierten Hand, die trotz der sichtbaren Lebensjahre auch die Eleganz, Weisheit und den Charme einer weltgewandten Frau erkennen lässt. Als Zuschauende staunt man ob der vielen Funde, die sie in die Kamera hält. Dabei täuschen das Profane, die Banalität der Funde, die Beiläufigkeit der Erzählungen nicht über die Größe des gelebten Lebens hinweg. Über der ganz persönlichen Biografie lässt der Film auch alle Betrachtende über die eigenen Erinnerungen und die ganz persönliche Truhe reflektieren, die jeder besitzt. Auch wenn man gerade heute nicht die Zeit hat, hineinzuschauen. Ein wunderschöner, reflektierter und zarter Film über Erinnerungen und Vergänglichkeit.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Kurzfilm
Regie:Dagmar Scheibert
Drehbuch:Dagmar Scheibert
Kamera:Reinhard Eisener
Schnitt:Emma Alice Gräf
Länge:6 Minuten
Produktion: 3-30 Film GbR Dagmar Scheibert

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Die Kamera bringt uns die Protagonistin ins Bild. Die alte Dame sitzt neben einer großen Truhe, die ihre Lebenserinnerungen bewahrt. Sie holt aus der Truhe Tüten, Umschläge, Zeitungsausschnitte. Und sie hält Bilder, Postkarten und Reisebeschreibungen in der Hand. Erinnerungen an die Jugendjahre, an ihre Lebensstationen, an ihre Reisen. Und sie kommentiert und macht uns zu ihren Zeitzeugen. Dazu auch ihre Wertung: „Das muss ich nicht aufheben, das kann weg, das vielleicht nicht.“ Das, was früher von Bedeutung war, erscheint ihr heute belanglos. Und berufliche Anweisungen von ehemals – das zählt doch heute nicht mehr. Spannend hört man der Frau zu und ertappt sich dabei, dass man selbst schon längst oder demnächst selbst in die Zeit kommt, das eigene Leben und seine Erinnerungen zu sortieren und vor allem vieles oder gar alles davon zu entsorgen. Berge von Papier liegen schon auf dem Boden neben der Truhe, zum Wegwerfen, aber Vieles wieder zurück in die Truhe: „Heute habe ich keine Zeit“. In nur wenigen Minuten werden wir Zeugen eines ganzen Lebens einer beeindruckenden Frau. Ein Dokument, das noch rechtzeitig vor dem Tod der Protagonistin entstand. Eine dokumentarische Kostbarkeit, über deren Entstehung, die Produktion sowie deren wirklich spannende Protagonistin die Jury auch gerne noch mehr erfahren hätte.