Die Hälfte der Stadt

Filmplakat: Die Hälfte der Stadt

FBW-Pressetext

Chaim Berman kommt 1890 im polnischen Städtchen Kozienice zur Welt. Bereits sehr früh begeistert er sich für Fotografie und lernt sein Handwerk vom eigenen Vater. Schon vor dem Ersten Weltkrieg portraitiert er die Bewohner von Kozienice - Polen, Juden und Deutsche, die hier friedlich nebeneinander leben. Berman lebt das Ideal der friedlichen Koexistenz. Seine Überzeugungen stoßen auf Widerstände, als sich das politische Klima in den 1930er Jahren verfinstert und der brutale Chauvinismus sich in Europa immer weiter durchsetzt. Bis zum Schluss weigert sich Berman, Polen zu verlassen, da er an eine friedliche Lösung glaubt. Diese Haltung wird ihm zum Verhängnis, als seine Familie dem Holocaust zum Opfer fällt. Bermans ehemalige Freunde werden plötzlich zu Feinden, während Menschen, die er vorher nicht sonderlich schätzte, zu Rettern werden. Die Suche nach Chaim Berman und seinem Schicksal beginnt für den Regisseur Pawel Siczek mit den Glasnegativen, die Berman hinterlassen hat. Er fragt die Bewohner nach ihren Erinnerungen, er begleitet einen jungen Fotografen und seine Lebensgefährtin bei der Motivsuche im heutigen Kozienice. Und er begibt sich selbst auf die Suche nach dem Menschen, der Chaim Berman zuletzt gesehen hat. Es ist die Tochter von Antoni Kaczor, der die Bermans im Krieg bei sich versteckte. Ergreifend sind die Momente, wenn die nun ältere Dame nach Kozienice zurückkehrt und von damals erzählt, von den Momenten des Schreckens, des ständigen Auf-der-Hut-seins, der permanenten Bedrohung. Um die Erinnerungen zu visualisieren, bedient sich Siczek dem Mittel der Animation. Er nutzt sie auch als ein buntes, lebensbejahendes Mittel, um das zerstörte Leben zu rekonstruieren und über die polnische Welt der Zeit vor dem Krieg zu erzählen Zusätzlich berührt der Film durch die kluge und sensible Montage der einzelnen Szenen. Immer wieder kehrt der Film zu den Negativaufnahmen zurück. Ohne Kommentar lässt er die Fotografien wirken. Und dann kann man sich, ähnlich wie der Fotograf, der Faszination des Mediums nicht entziehen. Denn hinter jeder Fotografie steckt Chaim Berman selbst. Ein Mann, der wie so viele zum Opfer der Nazis wurde. Und der doch durch seine Aufnahmen und seine Überzeugungen unvergessen bleibt. Ein wichtiges filmisches Zeitzeugnis.

Filminfos

Gattung:Animationsfilm; Dokumentarfilm
Regie:Pawel Siczek
Drehbuch:Pawel Siczek
Kamera:Daniel Samer
Schnitt:Ulrike Tortora
Musik:Roman Bunka
Webseite:leykauf-film.de;
Länge:86 Minuten
Kinostart:05.11.2015
Verleih:Real Fiction
Produktion: Leykauf Film GmbH & Co.KG, Balance Film; RBB; Arte;
Förderer:FFF Bayern; DFFF; MDM; KJDF

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Dies ist die Geschichte von Chaim Bermann, der 1890 in dem polnischen Städtchen Kozienice geboren wurde und dort bis zum Holocaust als Gemeindepolitiker und Fotograf lebte und wirkte. Sein Einsatz galt vor allem auch dem Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus Polen, Deutschen und Juden. Bis sich das politische Klima in der Stadt durch den Nationalsozialismus veränderte…
Jahrzehntelang porträtierte Bermann die Menschen in seinem Umfeld. Rund zehntausend Porträts auf Glasnegativen sind seine Hinterlassenschaft und der Ausgangspunkt für Regisseur Pawel Siczek, das Leben des Urhebers und auch der Bewohner der Region in unsere Zeit zu übertragen. Ein Schatz von übergroßem Reichtum, der hier gehoben wurde und eine Reise durch eine fast vergessene Epoche. Gleichzeitig die wichtige Aufarbeitung der jüdischen Geschichte einer polnischen Stadt.

Die filmische Dramaturgie ist außergewöhnlich und auf drei Erzählebenen werden uns die Menschen und ihre Schicksale nahegebracht. Da sind zum einen die noch vorhanden alten Fotos nach den Glasplatten. Dann die Erzählungen der Tochter von Berman und eines alten Ehepaares, ehemalige Nachbarn der Familie. Und zuletzt die bewegten Bilder vom heutigen Kozienice mit einer überraschenden „Bereicherung“. In diese bewegten Bilder werden sehr naive, aber auch reizvolle Animationen eingefügt, die immer etwas mit den Erzählungen der Protagonisten zu tun haben. Eine Form der Animation, welche als Reminiszenz an die naive Malerei der dortigen Region zu werten ist.
Insgesamt ist dies nach Ansicht der Jury formal nicht nur ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm, sondern auch eine außerordentlich verdienstvolle Aufarbeitung von Geschichte.