Der dritte Mann

Kinostart: 01.09.49
1949
Filmplakat: Der dritte Mann

Jurybegründung

Der Bewertungsausschuss hat dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen. Er bekundet damit, dass er den Film „Der dritte Mann“ für eines der großen Meisterwerke der europäischen Filmkunst hält.

Für den naiven Zuschauer mag dieser Film ein spannungsreicher Kriminalfilm sein. Er wird auf jeden Fall vom Ablauf der Handlung gepackt. Der Film trägt aber insofern die Zeichen eines großen Films, als er auf zwei Ebenen zu verstehen ist. Für den tiefer Blickenden enthält bereits die Story von Graham Greene eine Antwort auf manche Fragen, die dem Menschen von heute gestellt sind, vor allem auf die nach den Grenzen eines Paktierens mit dem Bösen. Die Figur des Molly Martins ist keine tragische Figur im antiken Sinn, sondern eines Menschen ohne tiefer gehende Bildung, der aber starke Bindungen der Freundschaft an einen anderen Menschen besitzt. Wider seinen Willen wird er mit der Wahrheit über diesen Menschen konfrontiert und entschließt sich aus seinem Gefühl, seinen Freund, der die sittliche Ordnung grausam verletzt hat, der verdienten Strafe zuzuführen. Diese klare Entscheidung ist im Grund eine Entscheidung gegen die Relativierung menschlicher und sittlicher Werte nach einer Völkerkatastrophe. Der Freund nämlich, Harry Lime, argumentiert ihm gegenüber mit den gefährlichen Thesen „des Wolfs unter Wölfen“. Die Figur des Harry Lime vertritt den egozentrischen Typus des modernen Menschen mit einem gewissen Charme, den Greene und Reed dazu benutzen, um die Unabhängigkeit der Liebe zwischen Mann und Weib von Gut und Böse darzustellen. Harry Lime trägt immer noch die Züge des Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde, doch er stellt sich mit letzter Konsequenz aus der Ordnung der Menschlichkeit selbst hinaus. Anna aber bleibt in ihrer Liebe zu ihm unerschüttert.



Die Problematik des Films, die sich bis in die Nebenfiguren hinein verästelt, ist also keineswegs vereinfacht, sondern in ihren menschlichen Komplikationen in die Tiefe geführt worden.

Der Stil, den Carol Reed im „Dritten Mann“ zur Vollendung geführt hat, zieht das Milieu und die Sprache der Dinge zur Sichtbarmachung der Probleme heran. An vielen Stellen des Films erhält die Umwelt des Menschen symbolische Bedeutung.

Die Atmosphäre, die Reed dadurch erzeugt, charakterisiert die Unsicherheit des Sittlichen in einer Zeit vollkommener Erschütterung. Von dieser sprechen die Straßen und die Häuser Wiens, die zersprungenen Treppenstufen, die düster engen Gänge der Kloaken. Der Ruch von Zerstörung und Abfall wird zum Mitspieler gemacht. Alle psychologischen und optischen Motive werden von Anfang an sorgfältig eingeführt und ins Spiel gebracht. Die überhöhte Wirklichkeit als bild einer irdischen Hölle wird aber durch jenen sinn für die Realität erzielt, der den am Dokumentarfilm geschulten Filmschöpfer verrät.

Diese Wirklichkeit, die Reed im Nachkriegswien ansiedelt, entbehrt aber auch nicht der Züge von Humor und Ironie. Erst dadurch macht Reed sie glaubhaft. Über die Tonbehandlung in diesem Film das Eingreifen der Geräusche in die Handlung und die stimmungsmäßige Kontrapunktik des einmaligen Einfalles der Zithermusik ist so viel geschrieben worden, dass der Bewertungsausschuss eine nochmalige Erläuterung für überflüssig hält. Die charakterisierende Sprache der Kamera und der

rhythmisierende Schnitt sind gleichfalls des öfteren analysiert worden. Die Treffsicherheit, mit der alle Rollen dieses Films besetzt und durchgeführt worden sind, ist höchsten Lobes wert.

Obwohl der Film ein Zeitdokument ist, ist er zum Rang eines zeitlosen Kunstwerkes erhoben, weil er die Forderung nach Ganzheit, nach Stimmigkeit in allen seinen Teilen erfüllt. Die an ein Kunstwerk gestellt werden muss.

(Kempel)
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Spielfilm; Kriminalfilm
Regie:Carol Reed
Darsteller:Orson Welles; Alida Valli; Joseph Cotten; Trevor Howard; Paul Hörbiger; Siegfried Breuer; Erich Ponto; Ernst Deutsch; Hedwig Bleibtreu
Drehbuch:Graham Greene
Kamera:Robert Krasker
Schnitt:Oswald Hafenrichter
Musik:Anton Karas
Länge:104 Minuten
Kinostart:01.09.1949
Produktion: , London Film Productions
FSK:12

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Der Bewertungsausschuss hat dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen. Er bekundet damit, dass er den Film „Der dritte Mann“ für eines der großen Meisterwerke der europäischen Filmkunst hält.
Für den naiven Zuschauer mag dieser Film ein spannungsreicher Kriminalfilm sein. Er wird auf jeden Fall vom Ablauf der Handlung gepackt. Der Film trägt aber insofern die Zeichen eines großen Films, als er auf zwei Ebenen zu verstehen ist. Für den tiefer Blickenden enthält bereits die Story von Graham Greene eine Antwort auf manche Fragen, die dem Menschen von heute gestellt sind, vor allem auf die nach den Grenzen eines Paktierens mit dem Bösen. Die Figur des Molly Martins ist keine tragische Figur im antiken Sinn, sondern eines Menschen ohne tiefer gehende Bildung, der aber starke Bindungen der Freundschaft an einen anderen Menschen besitzt. Wider seinen Willen wird er mit der Wahrheit über diesen Menschen konfrontiert und entschließt sich aus seinem Gefühl, seinen Freund, der die sittliche Ordnung grausam verletzt hat, der verdienten Strafe zuzuführen. Diese klare Entscheidung ist im Grund eine Entscheidung gegen die Relativierung menschlicher und sittlicher Werte nach einer Völkerkatastrophe. Der Freund nämlich, Harry Lime, argumentiert ihm gegenüber mit den gefährlichen Thesen „des Wolfs unter Wölfen“. Die Figur des Harry Lime vertritt den egozentrischen Typus des modernen Menschen mit einem gewissen Charme, den Greene und Reed dazu benutzen, um die Unabhängigkeit der Liebe zwischen Mann und Weib von Gut und Böse darzustellen. Harry Lime trägt immer noch die Züge des Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde, doch er stellt sich mit letzter Konsequenz aus der Ordnung der Menschlichkeit selbst hinaus. Anna aber bleibt in ihrer Liebe zu ihm unerschüttert.

Die Problematik des Films, die sich bis in die Nebenfiguren hinein verästelt, ist also keineswegs vereinfacht, sondern in ihren menschlichen Komplikationen in die Tiefe geführt worden.
Der Stil, den Carol Reed im „Dritten Mann“ zur Vollendung geführt hat, zieht das Milieu und die Sprache der Dinge zur Sichtbarmachung der Probleme heran. An vielen Stellen des Films erhält die Umwelt des Menschen symbolische Bedeutung.
Die Atmosphäre, die Reed dadurch erzeugt, charakterisiert die Unsicherheit des Sittlichen in einer Zeit vollkommener Erschütterung. Von dieser sprechen die Straßen und die Häuser Wiens, die zersprungenen Treppenstufen, die düster engen Gänge der Kloaken. Der Ruch von Zerstörung und Abfall wird zum Mitspieler gemacht. Alle psychologischen und optischen Motive werden von Anfang an sorgfältig eingeführt und ins Spiel gebracht. Die überhöhte Wirklichkeit als bild einer irdischen Hölle wird aber durch jenen sinn für die Realität erzielt, der den am Dokumentarfilm geschulten Filmschöpfer verrät.
Diese Wirklichkeit, die Reed im Nachkriegswien ansiedelt, entbehrt aber auch nicht der Züge von Humor und Ironie. Erst dadurch macht Reed sie glaubhaft. Über die Tonbehandlung in diesem Film das Eingreifen der Geräusche in die Handlung und die stimmungsmäßige Kontrapunktik des einmaligen Einfalles der Zithermusik ist so viel geschrieben worden, dass der Bewertungsausschuss eine nochmalige Erläuterung für überflüssig hält. Die charakterisierende Sprache der Kamera und der
rhythmisierende Schnitt sind gleichfalls des öfteren analysiert worden. Die Treffsicherheit, mit der alle Rollen dieses Films besetzt und durchgeführt worden sind, ist höchsten Lobes wert.
Obwohl der Film ein Zeitdokument ist, ist er zum Rang eines zeitlosen Kunstwerkes erhoben, weil er die Forderung nach Ganzheit, nach Stimmigkeit in allen seinen Teilen erfüllt. Die an ein Kunstwerk gestellt werden muss.
(Kempel)